Die Milchstraße – gewogen und für leichter befunden

Forschungsbericht (importiert) 2009 - Max-Planck-Institut für Astronomie

Autoren
Xue, Xiang-Xiang; Rix, Hans-Walter; van den Bosch, Frank; Bell, Eric; Kang, Xi
Abteilungen
Galaxien und Kosmologie (Prof. Dr. Hans-Walter Rix)
MPI für Astronomie, Heidelberg
Zusammenfassung
Eine Gruppe von Astronomen unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für Astronomie hat die Geschwindigkeit von Sternen in dem Außenbereichen der Milchstraße gemessen und daraus den bislang genauesten Wert für die Gesamtmasse der Galaxis abgeleitet: Innerhalb eines Radius von 200.000 Lichtjahren sind 4×1011 Sonnenmassen enthalten, was auf eine Gesamtmasse von 1012 Sonnenmassen führt. Dieses Ergebnis zeigt, dass die Masse des Milchstraßensystems bislang erheblich überschätzt wurde und gleichzeitig impliziert, dass in unserem Milchstraßensystem Sterne mit außergewöhnlich hoher Effizienz entstanden sind.

Nach den heutigen Vorstellungen zur Entstehung von Galaxien wuchsen zunächst Verdichtungen der kalten Dunklen Materie an, die dann als „Gravitationsfallen“ für die normale baryonische Materie gewirkt haben. Demnach bildeten sich die sichtbaren Teile der Galaxien in den Zentren großer Halos aus Dunkler Materie, die sie noch heute umgeben. Die Ausdehnung dieses Halos aus dunkler Materie ist 10- bis 20-mal so groß, wie die Sternansammlung in seinem Zentrum.

Die Massenbestimmung des Milchstraßensystems und seines Halos aus Dunkler Materie ist schwierig, weil wir uns innerhalb dieses Systems befinden. Im Jahre 1999 ermittelten Astronomen aus der Beobachtung von 27 Satellitengalaxien und Kugelsternhaufen eine Gesamtmasse von 1,9×1012 Sonnenmassen. Vier Jahre später kam eine andere Gruppe nach der Analyse von elf Satellitengalaxien, 137 Kugelsternhaufen und 413 Sternen der Sonnenumgebung auf circa 2×1012 Sonnenmassen. Im Jahre 2007 führte die Analyse einer Gruppe von Hochgeschwindigkeitssternen auf 1,4×1012 Sonnenmassen. Die Unsicherheit all dieser Massenbestimmungen beträgt jedoch einen Faktor zwei bis drei.

Das Team unter der Leitung von Xiang-Xiang Xue, einer Forscherin des Nationalen Observatoriums Chinas, die am Max-Planck-Institut für Astronomie promoviert, verwendete für ihre neue Studie „Sterne im Halo des Milchstraßensystems“, die im Hertzsprung-Russell-Diagramm auf dem blauen Horizontalast (blue horizontal branch, BHB) liegen. Diese massereichen, hellen Sterne befinden sich in einer Spätphase ihrer Entwicklung, sie verbrennen in ihrem Kern Helium und ihre absolute Leuchtkraft ist bekannt. Deshalb lässt sich aus der Messung ihrer scheinbaren Helligkeit ihre Entfernung recht genau bestimmen. Diese Sterne identifizierten die Astronomen im Archiv der Durchmusterung SEGUE (Sloan Extension for Galactic Understanding and Exploration), die zum zweiten Sloan Digital Sky Survey (SDSS-II) gehört.

Um die BHB-Sterne zu identifizieren, werteten die Astronomen die Spektren von rund 10.000 Kandidaten aus und identifizierten sie durch eine detaillierte Absorptionslinien-Analyse. Übrig blieben schließlich 2401 Sterne bis in 200.000 Lichjahre Entfernung von der galaktischen Scheibe, deren Radialgeschwindigkeiten sich aus den SDSS-Spektren mit einer Genauigkeit von mindestens 30 km/s ermitteln ließen (Abb. 1 und 2). Die Entfernungen ergaben sich aus den Farb- und Spektrallinformationen. Dies ist die bislang mit Abstand größte homogene Stichprobe von Sternen in den Außenbereichen der Galaxis, die für eine Massenbestimmung des Sytems herangezogen wurde.

Die Aufgabe bestand letztlich darin, aus diesen Entfernungen und Geschwindigkeiten das Massenprofil des Milchstraßenhalos zu ermitteln und die Virialmasse des Halos zu berechnen. Dieses Problem lösten die Astronomen, indem sie ihre Messdaten mit zwei numerischen Simulationen kombinierten, welche die Entstehung des Milchstraßensystems innerhalb des Halos aus Dunkler Materie simulieren. Effekte, wie Gasdynamik und Sternentstehung, flossen hier mit ein.

Mit diesen beiden Simulationen erzeugten die Astronomen gewissermaßen kinematische „Pseudo-Beobachtungen“ von simulierten Halosternen und stellten dann folgende Frage: Für welches Massenprofil der Halos aus Dunkler Materie in den Simulationen stimmen die Radialgeschwindigkeiten der simulierten Halosterne mit den echten Beobachtungen überein? Aus dem Vergleich von Simulation und Messdaten konnten die Astronomen die wahrscheinlichste Massenverteilung im Milchstraßenhalo ermitteln, die traditionell durch die Kreisbahngeschwindigkeit ihrer Sterne beschrieben wird.

Das Ergebnis für die beiden kosmologischen Si­mu­lationen über einen Entfernungsbereich von 30.000 bis 200.000 Lichtjahren (entsprechend 10 und 60 Kiloparsec) sind in Abbildung 3 dargestellt. Hiermit wurde die Rotationskurve der Galaxis erstmals bis in so große Entfernungen vom galaktischen Zentrum und mit so hoher Genauigkeit gemessen. Auffallend ist eine leichte Geschwindigkeitsabnahme von 220 km/s auf etwa 175 km/s vom Ort der Sonne bis in die größte Entfernung. Abbildung 3 zeigt, wie sich hieraus die Masse des Milchstraßensystems innerhalb eines Radius von 200.000 Lichtjahren ergibt. (Das ist der Maximalabstand, bis zu dem Geschwindigkeiten ge­mes­sen wurden.) Die Astronomen erhielten hierfür einen Wert von 4,0×1011 Sonnenmassen mit einer Ge­nau­ig­keit von etwa 20 Prozent.

Der zur Virialmasse beitragende Bereich reicht jedoch wesentlich weiter als die 60 Kiloparsec, auf die die Beobachtungsergebnisse begrenzt sind. Die Astronomen konnten rechnerisch aus ihren Daten eine Virialmasse bestimmen, indem sie den innerhalb von 60 Kiloparsec ermittelten Wert in die kosmologischen Simulationen eingaben und aufgrund der Modelle bis in eine Entfernung von 290 Kiloparsec extrapolierten. Dieses Verfahren führte auf eine Virialmasse von 1,0×1012 Sonnenmassen mit einer Genauigkeit von 20 bis 30 Prozent (Abb. 4). Dieses Ergebnis ist erheblich genauer als frühere Massenbestimmungen und liegt am unteren Rand der Bandbreite aller früheren Abschätzungen oder darunter.

Ein Vergleich der ermittelten Gesamtmasse mit der unabhängig gemessenen stellaren Masse zeigt, dass in der Galaxis fast die Hälfte der Baryonen in die Entstehung von Sternen eingegangen ist. Das ist doppelt so viel wie in vergleichbaren Galaxien. Unsere Milchstraße war also besonders effizient in der Bildung von Sternen.

Dieses Ergebnis – welches inzwischen mit verbesserten Daten weiter bestätigt wurde – hat Auswirkungen auf die Dynamik der Satellitengalaxien. Insbesondere stellt sich die Frage, ob beispielsweise die Magellanschen Wolken schon immer an das Milchstraßensystem gebunden waren. Darüber hinaus hat der neue Massenwert auch Auswirkungen auf kos­mo­lo­gi­sche Modelle, die sich mit der Bewegung des Milch­straßensystems relativ zur Andromeda-Galaxie befassen. Entgegen der allgemeinen Fluchtbewegung der Galaxien aufgrund der kosmischen Expansion bewegen sich diese beiden Galaxien aufeinander zu.

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