Zwerggalaxien unter der Lupe

Forschungsbericht (importiert) 2008 - Max-Planck-Institut für Astronomie

Autoren
Coleman, Matthew G.; De Jong, Jelte T. A.; Martin, Nicolas F.; Rix, Hans-Walter; Bell, Eric F.; Hippelein, Hans
Abteilungen
Galaxien und Kosmologie (Prof. Dr. Hans-Walter Rix)
MPI für Astronomie, Heidelberg
Zusammenfassung
Auf dem Mount Graham in Arizona entsteht unter maßgeblicher Beteiligung des Max-Planck-Instituts für Astronomie (MPIA) das Large Binocular Telescope. Auf einer gemeinsamen Montierung trägt es zwei Hauptspiegel mit je 8 Metern Öffnung. Im Frühjahr 2007 erfolgten erste Beobachtungen mit einem der beiden Spiegel. Matthew Coleman vom MPIA und Kollegen veröffentlichten ihre Beobachtungen als erste: Sie betreffen drei Zwerggalaxien, die unser Milchstraßensystem begleiten und deren sonderbare morphologische Eigenschaften auf die starke gravitative Wechselwirkung mit der Galaxis und eine komplexe Entwicklungsgeschichte hinweisen.

Im Verlauf des Jahres 2007 wurde im Large Binocular Telescope (LBT) auch der zweite Spiegel eingesetzt (Abb. 1), die ­ers­ten Be­ob­achtungen erfolgten jedoch mit nur einem der beiden 8,4-Meter-Spiegel. Hierfür stand die Large Binocular Camera für den blauen Kanal (LBC Blue) im Primärfokus zur Verfügung. LBC Blue und sein zukünftiger Zwilling für den roten Spektralbereich, LBC Red, wurden von den italienischen LBT-Partnern entwickelt. LBC Blue ist mit vier CCDs zu jeweils (2048 x 4608) Pixel ausgestattet und bildet ein (23 x 23) Quadratbogenminuten großes Him­melsfeld ab, was fast der Größe des Vollmondes ent­spricht. Diese Kamera ist gewissermaßen eine CCD-Weit­winkelkamera mit 38 Megapixel. Sie ist auf den Wel­lenlängenbereich von 320 bis 500 nm spezialisiert und mit einer Reihe von Standardfarbfiltern ausgerüstet.

Die Herkules-Zwerggalaxie

Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts waren neun kugelförmige Zwerggalaxien (dwarf spheroidal galaxies) als Begleiter unserer Galaxis bekannt. Durch den Sloan Digital Sky Survey (SDSS), an dem auch das MPIA beteiligt ist, hat sich diese Zahl innerhalb von nur drei Jahren verdoppelt. Diese kleinen Galaxien besitzen eine sehr geringe Flächenhelligkeit und sind daher sehr schwer zu entdecken und zu studieren.

Von den bereits untersuchten Objekten dieser Art ist bekannt, dass Dunkle Materie den größten Teil ihrer Gesamtmasse ausmacht. Außerdem weisen sie sehr unterschiedliche Entwicklungsgeschichten auf, was sich im Alter ihrer Sternpopulationen widerspiegelt. Die Untersuchung dieser lichtschwachen Sternsysteme erfordert leistungsstarke Teleskope, weswegen unser Wissensstand über sie noch sehr lückenhaft ist. Insbesondere ist noch weitgehend unklar, auf welche Weise Entstehung und Entwicklung dieser Satellitengalaxien mit derjenigen unserer Milchstraße verwoben sind. Warum ist das Verhältnis von Dunkler zu normaler Materie in den Zwerggalaxien viel höher als im Milchstraßensystem? Dies sind nur zwei von vielen weitgehend ungeklärten Fragen.

Die Zwerggalaxie im Sternbild Herkules wurde erst kurz vor den hier beschriebenen LBT-Beobachtungen in den Daten des SDSS entdeckt. Sie ist etwa 456.000 Lichtjahre entfernt und ihr Masse-Leuchtkraft-Verhältnis weist einen extrem hohen Wert von 332 MSonne/LSonne (mit einer Unsicherheit von 50%) auf. Zum Vergleich: Das Masse-Leuchtkraft-Verhältnis des Milchstraßensystems liegt bei einem Wert von 50 bis 100 MSonne/LSonne. Mehr war bis zu den Beobachtungen von Coleman und seinen Kollegen über die Herkules-Zwerggalaxie nicht bekannt.

Für seine photometrischen Untersuchungen nahm das Team die Herkules-Zwerggalaxie durch drei Filter (B, V und r) auf. Die Aufnahmeserien erreichten eine untere Grenzhelligkeit von 25,5 mag, sodass für diese Galaxie erstmals ein nahezu vollständiges Farben-Helligkeits-Diagramm (FHD) erstellt und die gesamte Population modelliert werden konnte (Abb. 2). Die besten Werte ergaben sich für eine einzige 13 Milliarden Jahre alte Sterngeneration mit einer entsprechend geringen Metallizität. Die Entfernung ergab sich zu 132 kpc (430.000 Lj). Diese Werte wurden zunächst für die Sterne im Kernbereich ermittelt.

Mit diesen Werten wurde der Versuch unternommen, die weiter außen liegenden Sterne ebenfalls zu identifizieren – ein schwieriges Unterfangen, weil in mehreren Schritten Vordergrundsterne und Hintergrundgalaxien identifiziert werden mussten. Letztere konnten zum Großteil eliminiert werden, weil sie im Gegensatz zu den Sternen nicht punktförmig, sondern ausgedehnt erscheinen. Die restlichen, punktförmig erscheinenden Hin­tergrundgalaxien konnten aufgrund ihrer Farben ausge­son­dert werden. Feldsterne, die nicht zur Herkules-Zwerg­ga­laxie gehören, ließen sich mithilfe eines Helligkeitskriteriums sowie durch den Vergleich mit einem benachbarten Himmelsgebiet ausschließen (Abb. 2 rechts).

Mit diesen beiden Verfahren wurden rund 85% aller Objekte im FHD entfernt. Nun ließ sich die räumliche Ausdehnung und Struktur der Herkules-Zwerggalaxie ermitteln. Wie Abbildung 3 zeigt, ist dieses Sternsystem elliptisch geformt mit einem außergewöhnlich großen Achsenverhältnis von 3:1; die Länge der großen Halbachse beträgt 550 Lichtjahre.

Ein derart großes Achsenverhältnis wurde bislang bei keiner anderen Zwerggalaxie beobachtet. Lediglich die 65.000 Lichtjahre entfernte Sagittarius-Zwerggalaxie weist eine ähnlich kuriose Form auf. In diesem Fall liegt der Ursprung in den starken Gezeitenkräften des Milchstraßensystems. Ein ähnliches Schicksal erleidet auch die 230.000 Lichtjahre entfernte Ursa-Minor-Zwerggalaxie, deren Achsenverhältnis etwa 2:1 beträgt. Doch diese beiden Sternsysteme stehen dem Milchstraßensystem viel näher als die Herkules-Zwerggalaxie. Eine Abschätzung zeigt, dass Gezeitenkräfte die Herkules-Zwerggalaxie nur dann erheblich verformen können, wenn diese nicht weiter als 24.000 Lichtjahre vom Milchstraßensystem entfernt ist (alle Entfernungsangaben beziehen sich auf das Zentrum des Milchstraßensystems). Da der heutige Abstand 400.000 Lichtjahre beträgt, können Ge­zei­tenkräfte nur dann für die elliptische Form verantwortlich sein, wenn die Herkules-Zwerggalaxie das galaktische Zentrum auf einer hoch exzentrischen Bahn (Ex­zentrizität e > 0.9) umläuft und sich derzeit etwa an ihrem fernsten Punkt befindet. Weitere Analysen müssen zeigen, ob dieses Modell glaubwürdig ist.

Die andere Erklärung wäre, dass die elliptische Form die Folge einer schnellen Rotation der Zwerggalaxie ist. Doch ist kein weiteres Sternsystem dieser Art bekannt, das auch nur annähernd so schnell rotiert wie man es für die Herkules-Zwerggalaxie fordern müsste. Weitere spektroskopische Beobachtungen sind deshalb nötig, um diese Möglichkeit zu überprüfen. In jedem Fall aber ist die Herkules-Zwerggalaxie ein überraschendes Objekt, das Modellen für die Entwicklung des Milchstraßensystems eine weitere interessante Facette hinzufügt.

Komplexe Sternentstehungsgeschichten in Canes Venatici I und Leo T

Zwei weitere Zwerggalaxien namens Canes Venatici I und Leo T wurden in den Daten des SDSS gefunden. Canes Venatici I ist mit 730.000 Lichtjahren ebenfalls sehr weit von unserer Galaxis entfernt und war deshalb auch bisherigen Himmelsdurchmusterungen entgangen. Ihre Masse beträgt 107 bis 108 Sonnenmassen.

Eine erste Untersuchung bestätigte zunächst die Vermutung, dass dieses Sternsystem – wie für Zwerggalaxien in dieser großen Entfernung üblich – sehr alt ist. Doch dann deutete eine weitere Arbeit die Existenz einer jungen Sternpopulation an. Beobachtungen einer interna­tio­nalen Astronomengruppe um Rodrigo Ibata vom Ob­ser­vatoire de Strasbourg ließen zudem vermuten, dass sich die beiden Sternpopulationen auch kinematisch unterscheiden. Eine andere Astronomengruppe konnte diese Vermutung hingegen nicht bestätigen. Tiefe photometrische Beobachtungen waren nötig, um die spannende Frage nach der Existenz zweier unterschiedlich alter Sternpopulationen zu entscheiden.

Ein Team um Nicolas Martin und Matthew Coleman vom MPIA nahm deshalb die Zwerggalaxie mit der LBC blue erneut in zwei Farbfiltern (B und V) bis zu einer Grenzgröße von etwa 25,5 mag auf. Diese Aufnahmen reichten ca. drei Größenklassen weiter als die bis dahin vorhanden Daten. Erneut konnten die Sterne auf dem Riesenast und der Abzweig alter Sterne von der Hauptreihe vermessen werden. Nachdem die Daten von Feldsternen und Hintergrundgalaxien bereinigt wa­ren, konnten an das FHD berechnete Isochronen der Sternentwicklung angepasst werden mit dem Ergebnis, dass Canes Venatici I 719.000 Lichtjahre entfernt ist; ihre Hauptsternpopulation ist metallarm und etwa 14,1 Milliarden Jahre alt.

Gleichzeitig wurde eine Gruppe von blauen Sternen erkennbar. Diese auch räumlich separate Gruppe befindet sich etwa 210 Lichtjahre östlich des Zentrums der Zwerggalaxie. Damit scheidet eine mögliche Deutung dieser blauen Sterne als sogenannte „Blue Stragglers“ aus. Das sind Doppelsterne, die blau erscheinen, aber keine jungen Sterne sind. Da es aber keinen ersichtlichen Grund für die Annahme gibt, dass sich eine Gruppe von Blue Stragglers in einem speziellen Bereich einer Zwerggalaxie angesammelt hat, bleibt als einfachste Erklärung, dass die blauen Objekte junge Sterne sind. Ihr Alter liegt nach Modellrechnungen zwischen 1,4 und 2 Milliarden Jahren. Diese jungen Sterne scheinen etwas metallreicher zu sein als die der älteren Generation.

Eine genauere Analyse erbrachte für die alte Stern­generation eine Gesamtleuchtkraft von 35.000 und für die junge von 3.500 Sonnenleuchtkräften. Umgerechnet bedeutet dies, dass die junge Sternpopulation zur gesamten stellaren Masse von Canes Venatici I drei bis fünf Prozent beiträgt.

Abbildung 4 zeigt eine Konturdarstellung der mit dem LBT beobachteten alten (rot) und jungen (blau) Sternpopulation. Ein Vergleich erbrachte eine sehr gute räumliche Übereinstimmung zwischen der Verteilung der jungen Population aus der LBT-Studie und den erwähnten spektroskopischen Untersuchungen der Gruppe um Ibata. Demnach muss man davon ausgehen, dass die beiden Sterngruppen sich auch kinematisch unterscheiden. Schon diese ersten Studien offenbaren demnach eine komplexe Entwicklungsgeschichte dieser weit entfernten Zwerggalaxie, die schon in Kürze weitere Beobachtungen nach sich ziehen wird.

Die ebenfalls im Rahmen des SDSS entdeckte Zwerggalaxie Leo T stellt an die Beobachtungen erhebliche Anforderungen, denn mit 1,38 Millionen Lichtjahren ist sie die mit Abstand entfernteste bekannte Zwerggalaxie. Auch hier ermöglichten die Aufnahmen mit dem LBT ei­ne tiefgehende Photometrie. Das FHD (Abb. 5 links) erwies sich als ziemlich komplex und ließ sich nur als Überlagerung mehrerer Populationen darstellen. Dem­nach existiert dort eine sehr junge Sterngeneration mit einem Alter zwischen 400 Milionen und einer Mil­liar­de Jahren und eine wesentlich ältere Population. Ei­ne genauere Analyse deutet darauf hin, dass es in die­ser Zwerggalaxie eine lang andauernde Phase der Sternentstehung gab, die vor etwa fünf Milliarden Jahren ende­te. Vor etwa einer Milliarde Jahren setzte eine neue Stern­entstehungsphase ein, die sich bis vor etwa 400 Mil­lio­nen Jahren hinzog. Erstaunlicherweise änderte sich die Metallizität der Sterne von der ersten zur zweiten Sternentstehungsphase nicht signifikant (Abb. 5 rechts).

Diese ersten Beobachtungen haben die Leistungsfähigkeit des LBT eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Gleichzeitig erwiesen sich die untersuchten Zwerggalaxien als sehr interessant und die Ergebnisse werfen eine Reihe von Fragen auf: Warum haben sich diese Zwerggalaxien so unterschiedlich entwickelt? Wie lässt sich ihre Evolution in das gesamte Entwicklungsszenario für unsere Galaxis einfügen? Welche Rolle haben die Halos aus Dunkler Materie hierbei gespielt?

Diesen Fragen wird die Gruppe des MPIA weiter nach­gehen. LBT-Beobachtungen der Zwerggalaxien Leo II und Ursa Major II liegen bereits vor und werden auf die beschriebene Art und Weise analysiert. Beobachtungen weiterer Zwerggalaxien wurden bereits beantragt, um ein umfassendes Bild von möglichst allen Zwerggalaxien zu erhalten. Dies sollte weitere Aufschlüsse über die Ent­wicklung dieser lichtschwachen Sternsysteme geben.

Geplant sind zudem weitere Beobachtungen der Her­kules-Zwerggalaxie, mit denen man der Frage nachgehen will, ob wirklich die Gezeitenkräfte des Milch­stra­ßen­sys­tems diese Galaxie verformt haben. Sollte dies der Fall sein, so müssten sich weitere Sterne finden lassen, die aus der Galaxie herausgezogen wurden und nun einen „Ge­zeitenschweif“ bilden.

In der Zukunft hoffen die Astronomen, im Rah­men des Projektes PanStarrs 1, an dem das MPIA beteiligt ist, weitere Zwerggalaxien zu entdecken. Diese könnten dann ebenfalls mit dem LBT detailliert untersucht werden.

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