Astronomen identifizieren das uralte Herz unserer Milchstraße

20. Dezember 2022

MPIA-Astronomen ist es gelungen, Sterne zu identifizieren, die Zeugen der frühesten Geschichte unserer Heimatgalaxie sind. Diese Sterne bilden heute noch das, was die Forscher das „arme alte Herz der Milchstraße“ getauft haben – „arm“ weil jene Sterne extrem arm an Elementen schwerer als Wasserstoff oder Helium sind. Für ihre galaktisch-archäologische Untersuchung analysierten die Forscher Daten der ESA-Mission Gaia und verwendeten ein neuronales Netz, um die chemischen Eigenschaften von zwei Millionen hellen Riesensternen rund um das Zentrum unserer Galaxie zu bestimmen. Das Ergebnis passt gut zu den Vorhersagen kosmologischer Simulationen der frühesten Geschichte unserer Heimatgalaxie.

Die Geschichte unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße, erstreckt sich über rund 13 Milliarden Jahre – entsprechend fast der gesamten Geschichte unseres Universums. In den letzten Jahrzehnten ist es Astronom*innen gelungen, verschiedene Epochen der galaktischen Geschichte zu rekonstruieren. Das Vorgehen dabei ähnelt der Art und Weise, wie Archäolog*innen die Geschichte einer Stadt rekonstruieren würden: Für einige Gebäude gibt es eindeutige Baudaten. Bei anderen deuten die Verwendung primitiverer Baumaterialien oder ältere Baustile darauf hin, dass sie früher entstanden sind. Auch der Umstand, dass Überreste von Gebäuden unter anderen (und damit neueren) Strukturen gefunden werden gibt wichtige Anhaltspunkte. Nicht zuletzt sind räumliche Muster wichtig: In vielen Städten gibt es eine zentrale Altstadt, die von deutlich neueren Stadtteilen umgeben ist.

Bei Galaxien, und insbesondere bei unserer Heimatgalaxie, verläuft die kosmische Archäologie ganz ähnlich. Die Grundbausteine einer Galaxie sind ihre Sterne. Für eine kleine Untergruppe von Sternen können die Astronomen genau bestimmen, wie alt sie sind. Dies gilt zum Beispiel für die so genannten Unterriesen, eine kurze Phase der Sternentwicklung, in der man anhand der Helligkeit und Temperatur eines Sterns auf sein Alter schließen kann.

Altersabschätzungen aus der Sternchemie

Allgemeiner gibt es für fast alle Sterne einen „Baustil“, zumindest ungefähre Rückschlüsse auf das Alter erlaubt: die so genannte Metallizität eines Sterns, definiert als die Menge an chemischen Elementen schwerer als Helium in der Atmosphäre des Sterns. Solche Elemente, die in der Sprechweise der Astronomie „Metalle“ heißen, entstehen im Sterninneren durch Kernfusion und werden kurz vor oder am Ende des Lebens eines Sterns freigesetzt. Für leichtere Elemente ist das der Fall, wenn die Außenregionen eines massearmen Sterns in den Weltraum hinaus driften, für schwerere Elemente nur dann, wenn ein massereicher Stern als Supernova explodiert und einen beachtlichen Teil seiner Materie ins All schleudert. Solche Prozesse reichern das interstellare Gas mit schwereren Elementen an, und aus jenem Gas entsteht dann die nächste Generation von Sternen – jede Generation mit einer höheren Metallizität als die vorigen.

Was die großräumigen Strukturen anbelangt, so ist eine Galaxie natürlich weniger statisch als eine Stadt – Gebäude bewegen sich in der Regel nicht, Sterne hingegen schon. Aber gerade die Bewegungsmuster der Sterne enthalten aufschlussreiche Informationen. In der Milchstraße kann die Bewegung von Sternen zum Beispiel auf die zentralen Regionen beschränkt sein, oder sie kann Teil der geordneten Rotation der Sterne in der Scheibe unserer Heimatgalaxie sein (in zwei Komponenten: die sogenannte „dünne Scheibe“ oder „dicke Scheibe“). Alternativ können Sternbahnen Teil des chaotischen Wirrwarrs von Bahnen in dem ausgedehnten sogenannten Halo unserer Galaxie sein – einschließlich extrem langgestreckter Bahnen, die Sterne immer wieder von den innersten zu den äußersten Regionen führen und wieder zurück.

Wie große Galaxien allmählich wachsen

So wie Städte einen Bauboom oder intensive Umbauphasen durchlaufen können, wird die Geschichte von Galaxien durch Verschmelzungen und Kollisionen geprägt sowie durch große Mengen an frischem Wasserstoffgas, das über Milliarden hinweg von außen in eine Galaxie einströmen kann – das Rohmaterial, aus dem sich neue Sterne bilden. Ganz am Anfang der Geschichte einer Galaxie stehen dabei kleineren Proto-Galaxien: Raumregionen mit einer höheren als der durchschnittlichen Massendichte, in denen bereits vergleichsweise kurz nach dem Urknall Gaswolken kollabieren und Sterne bilden.

Stoßen solche Proto-Galaxien zusammen und verschmelzen miteinander, bildet sich eine größere Galaxie. Fügt man diesen etwas größeren Gebilden später noch eine weitere Proto-Galaxie hinzu, dann kann folgendes passieren: Fliegt jene weitere Proto-Galaxie nicht exakt auf das Zentrum ihres Kollisionspartners zu, sondern hinreichend weit seitlich versetzt (physikalisch: „mit hinreichend großem Bahndrehimpuls“), dann kann bei der Kollision rund um die ursprüngliche Galaxie eine Scheibe mit Sternen entstehen. Verschmelzen dagegen zwei bereits ausreichend große Galaxien („major merger“), heizen sich ihre Gasreservoirs auf und bilden letztlich eine komplizierte elliptische Galaxie, mit einem komplexen Muster von Umlaufbahnen für die vorhandenen älteren Sterne aber so gut wie keiner neuen Sternentstehung.

Entsprechende Geschichten von Galaxien lassen sich mit einer Kombination aus Beobachtungen und Simulationen rekonstruieren. Und während die hier geschilderten Entwicklungsmöglichkeiten in groben Zügen bereits seit einigen Jahrzehnten bekannt sind, haben sich die Einzelheiten erst in jüngster Zeit herauskristallisiert – zum großen Teil dank einer Reihe von Durchmusterungen, die bessere und umfassendere Daten geliefert haben als zuvor verfügbar waren. Unsere Heimatgalaxie, die Milchstraße, spielt dabei eine herausgehobene Rolle. Sie ist per Definition diejenige Galaxie, deren Sterne wir am besten und detailliertesten untersuchen können. Eine Untersuchung der Geschichte unserer Heimatgalaxie, mit anderen Worten: galaktische Archäologie, ermöglicht es uns nicht nur, einen Teil unserer eigenen Geschichte zu rekonstruieren. Sie liefert uns auch Erkenntnisse über die Entwicklung von Galaxien im Allgemeinen („lokale Kosmologie“).

Was kam vor den Jugendjahren unserer Milchstraße?

Die archäologische Rekonstruktion, um die es bei den neuen Ergebnissen geht, schließt an eine Untersuchung aus dem Frühjahr 2022 an. Damals hatten die MPIA-Forscher Maosheng Xiang und Hans-Walter Rix Daten des ESA-Satelliten Gaia und der Spektraldurchmusterung LAMOST genutzt, um das Alter von Sternen für eine beispiellos umfangreicher Stichprobe von 250.000 sogenannten Unterriesen zu bestimmen. Anhand dieser Analyse konnten die Astronomen die bewegte Jugend der Milchstraße vor 11 Milliarden Jahren ebenso rekonstruieren wie ihr anschließendes eher ereignislos-ruhiges Erwachsenendasein.

(Die erwähnten Jugendjahre fielen mit der letzten bedeutenden Verschmelzung einer anderen Galaxie mit der Milchstraße zusammen. Jene andere Galaxie war die sogenannte Gaia Enceladus/Sausage-Galaxie, deren Überreste 2018 im Halo der Milchstraße entdeckt wurde. Die Verschmelzung löste eine Phase intensiver Sternentstehung aus und führte auf diese Weise zur Ausbildung einer vergleichsweise dicken Scheibe von Sternen, die wir heute sehen können. Im Erwachsenenalter dagegen ging es in punkto Sternentstehung viel ruhiger zu: mit allmählichem Zuströmen von Wasserstoffgas, das sich in der Struktur ansammelte, die wir heute die „dünne Scheibe“ unserer Galaxie nennen. Dort bildeten sich aus jenem Wasserstoffgas dann ebenso allmählich über Milliarden von Jahren hinweg neue Sterne.)

Was Xiang und Rix dabei allerdings auffiel war, dass die ältesten Sterne aus jener Jugendzeit bereits eine nicht allzu kleine Metallizität aufwiesen, nämlich rund 10 % der heutigen Metallizität unserer Sonne. Offensichtlich musste es vor der Entstehung jener Sterne noch frühere Generationen von Sternen gegeben haben, die das interstellare Medium bei ihrem Ableben bereits mit schweren Elementen „verschmutzt“ hatten.

Was Simulationen über die uralten Kernregionen der Milchstraße sagen

Die Existenz solcher früheren Sterngenerationen wiederum war keine Überraschung, denn genau solche früheren Generationen von Sternen zeigen auch aufwändige Simulationen der kosmischen Geschichte. Jene Simulationen sagen außerdem voraus, wo sich heute noch Vertreter jener früheren Sterngenerationen finden lassen sollten!

Konkret liefern diese Simulationen für die Anfänge dessen, was später unsere Milchstraße wurde, Szenarien mit drei oder vier Proto-Galaxien, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander gebildet hatten, anschließend miteinander verschmolzen, und deren Sterne sich zu einem vergleichsweise kompakten Gebilde mit einem Durchmesser von nicht mehr als ein paar tausend Lichtjahren zusammenfanden.

Dass später noch weitere Galaxien mit jener ursprünglichen Milchstraße verschmolzen, führte zur Entstehung weiterer Strukturen, insbesondere der Scheibenstruktur und des Halos. Aber die Simulationen legen nahe, dass ein Teil des ursprünglichen Kerns relativ unversehrt überlebte. Demnach sollte es möglich sein, Sterne aus dem anfänglichen kompakten Kern, dem „uralten Herzen der Milchstraße“, auch heute noch in und nahe den Zentralregionen unserer Galaxie zu finden – Milliarden von Jahren später.

Die Suche nach dem uralten Kern

An diesem Punkt begann sich Rix, konkrete Gedanken zu machen, wie sich tatsächlich Sterne aus dem alten Kern unserer Galaxie finden ließe. Er wusste aber, dass er, wenn er mehr als ein paar Dutzend solcher Sterne finden wollte, eine komplett neue Beobachtungsstrategie würde anwenden müssen. Das LAMOST-Teleskop, das in der vorherigen Studie die Hauptrolle gespielt hatte, kann aufgrund seines Standorts auf der Erde und des Problems mit Beobachtungen während der Monsunmonate im Sommer die Kernregionen der Milchstraße überhaupt nicht beobachten. Und Unterriesen, als Stichprobe der Wahl in der früheren Studie, sind zu lichtschwach, als dass sie jenseits von Entfernungen von etwa 7.000 Lichtjahren beobachtet werden könnten. Was sie angeht liegen die Kernregionen unserer Galaxie völlig außer Reichweite möglicher Beobachtungen.

An dieser Stelle wird wichtig, dass es neben den seltenen Unterriesen, deren Alter sich genau bestimmen lässt, noch den allgemeineren Altersindikator der Metallizität gibt – die oben erwähnten „unterschiedlichen Baustile“, die es erlauben, Sterne in ältere und jüngere einzuteilen. Hinzu kam, dass im Juni 2022 der dritte Datensatz (Data Release 3, DR3) der Gaia-Mission der ESA veröffentlicht wurde. Seit 2014 hat Gaia für mehr als eine Milliarde Sterne hochpräzise Positions- und Bewegungsparameter gemessen, einschließlich der Sternentfernungen. Damit hat die Mission (neben anderen Teilbereichen der Astronomie) die galaktische Astronomie revolutioniert. DR3 war die erste Datenveröffentlichung, die zusätzlich die ersten der mit Gaia aufgenommenen Spektren enthielt ­– Spektren von 220 Millionen astronomischen Objekten.

Rote Riesen aus DR3

Spektren liefern Informationen über die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre eines Sterns, einschließlich seiner Metallizität. Doch obwohl die Spektren von Gaia von hoher Qualität sind und Spektren für eine konkurrenzlos hohe Anzahl von Sternen vorliegen, ist die spektrale Auflösung – wie fein das Licht eines Objekts nach Wellenlänge in die elementaren Regenbogenfarben aufgespalten wird – von vornherein vergleichsweise gering. Um aus den Gaia-Daten verlässliche Werte für die Metallizität zu gewinnen, waren daher zusätzliche Analysen erforderlich, und genau das nahm Hans-Walter Rix mit René Andrae, einem auf Gaia-Daten spezialisierten Forscher am MPIA, in einem Projekt in Angriff – gemeinsam mit dem Gaststudenten Vedant Chandra, der von der Harvard University ans MPIA gekommen war.

Die drei Astronomen spezialisierten sich dabei auf rote Riesensterne in den Gaia-Daten – typische Rote Riesen sind etwa hundertmal heller als Unterriesen und damit auch auf die Entfernung des galaktischen Zentrums und seiner Nachbarschaft gut zu beobachten. Sie haben den zusätzlichen Vorteil, dass die spektralen Merkmale, anhand derer man die Metallizität bestimmen kann, bei Sternen dieses Typs vergleichsweise auffällig sind. Das machte sie für die Art von Analyse, die die Astronomen planten, besonders geeignet.

Mit maschinellem Lernen zur Metallizität

Für die Analyse selbst griffen die Astronomen auf Methoden des maschinellen Lernens zurück. Anwendungen dieser innovativen Technik finden sich inzwischen ja sogar im Alltag: Software wie DALL-E, die aus einfachen Textbeschreibungen passende Bilder generiert, oder wie ChatGPT, das mehr oder weniger kompetent Fragen beantworten und Schreibaufträge erfüllen kann. Beim maschinellen Lernen werden Lösungsstrategien nicht explizit programmiert. Stattdessen ist der Kern des Algorithmus ein so genanntes neuronales Netz, das oberflächlich betrachtet Ähnlichkeiten mit der Anordnung von Neuronen im menschlichen Gehirn aufweist. Dieses neuronale Netz wird dann trainiert: Es erhält Kombinationen von Aufgaben und deren Lösungen, und die Verbindungen zwischen Eingabe und Ausgabe werden so angepasst, dass das Netz zumindest für die Trainingsbeispiele für eine Eingabe die richtige Ausgabe wiedergibt.

In diesem speziellen Fall wurden dem neuronalen Netz zu Trainingszwecken ausgewählte Gaia-Spektren als Eingabe gegeben – Gaia-Spektren nämlich, bei denen die richtige Antwort, die Metallizität, bereits aus einer anderen Durchmusterung bekannt war (aus der Durchmusterung APOGEE, hochauflösende Spektralbeobachtungen als Teil des Sloan Digital Sky Survey [SDSS]). Die interne Struktur des Netzwerks wurde so angepasst, dass es zumindest für diese Trainingsbeispiele die korrekten Metallizitäten reproduzieren konnte.

Zuverlässige Metallizitäten für 2 Millionen helle Riesensterne

Eine allgemeine Herausforderung beim Einsatz des maschinellen Lernens in der Wissenschaft besteht darin, dass das neuronale Netz immer eine „Black Box“ ist – seine interne Struktur ist durch den Trainingsprozess entstanden und unterliegt nicht der direkten Kontrolle der Wissenschaftler. Aus diesem Grund trainierten Andrae, Chandra und Rix ihr neuronales Netz zunächst nur mit der Hälfte der APOGEE-Daten. In einem zweiten Schritt musste sich der Algorithmus dann an den restlichen APOGEE-Daten bewähren. Die Ergebnisse waren spektakulär: Auch für Sterne, an denen es nicht trainiert worden war, konnte das Netzwerk mit großer Genauigkeit Metallizitäten ermitteln.

Nachdem die Forscher auf diese Weise sowohl ihr neuronales Netz trainiert als auch überprüft hatten, dass es für zuvor unbekannte Spektren zum richtigen Ergebnis kam, durfte das neuronale Netz den gesamten Gaia-Datensatz für die vorab ausgewählten helle Riesensterne verarbeiten. Das verschaffte den Forschern genaue Werte für die Metallizitäten von 2 Millionen hellen Riesen in den inneren Regionen unserer Heimatgalaxie – der bislang größte Datensatz dieser Art.  

Eine Karte des uralten Herzens der Milchstraße

Mit Hilfe dieser Daten war es dann direkt möglich, das uralte Herz der Milchstraßengalaxie zu identifizieren – eine Population von Sternen, die Rix aufgrund ihrer geringen Metallizität, ihres hohen Alters und ihrer zentralen Lage als „armes altes Herz“ unserer Heimatgalaxie bezeichnet hat. Auf einer Himmelskarte erscheinen diese Sterne als um das galaktische Zentrum konzentriert. Die von Gaia (über die Parallaxenmethode) gelieferten Entfernungen ermöglichen zusätzlich eine 3D-Rekonstruktion, die zeigt, dass diese Sterne in der Tat vornehmlich in einer vergleichsweise kleinen inneren Region vorkommen, in Entfernungen von bis zu rund 15.000 Lichtjahren vom Zentrum.

Diese Sternpopulation schreibt die frühere Studie von Xiang und Rix zu den Jugendjahren der Milchstraße direkt fort: Die Sterne im „armen alten Herz“ haben genau die richtige Metallizität um die gesuchten Vorgänger der metallärmsten jener Sterne zu sein, die später die dicke Scheibe der Milchstraße bildeten. Daraus wiederum folgt eine Altersabschätzung, denn die Entstehung der dicken Scheibe konnten Xiang und Rix ja mit Hilfe der Unterriesen zuverlässig datieren: Das arme, alte Herz der Milchstraße muss älter sein als rund 12,5 Milliarden Jahre.

Chemische Bestätigung

Für diejenige, allerdings sehr kleine, Untermenge an Objekten, für die nicht nur Gaia-, sondern auch die hochaufgelösten APOGEE-Spektren verfügbar sind, kann man einen Schritt weitergehen: Aus den APOGEE-Spektren lassen sich zusätzliche Eigenschaften ableiten, insbesondere die Häufigkeit von Elementen wie Sauerstoff, Silizium und Neon. Das sind Elemente die entstehen, wenn zu Helium-4-Kernen (zwei Protonen, zwei Neutronen) wieder und wieder weitere Helium-4-Kerne, synonym Alphateilchen, hinzugefügt werden – ein Prozess, der „Alpha-Enhancement“ heißt. Solche Elemente zeigen an, dass die betreffenden Sterne ihre Metalle aus einer Umgebung bezogen, wo schwerere Elemente innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit durch die Supernova-Explosionen massereicher Sterne erzeugt wurden.

Dies wiederum spricht eher dafür, dass die Sterne im „armen alten Herz“ direkt nach der Verschmelzung der ersten Proto-Galaxien zum ursprünglichen Kern der Milchstraße entstanden sind, als dass sie bereits in den Zwerggalaxien vorhanden waren, die den ursprünglichen Kern der Milchstraße bildeten oder in solchen, die später mit der Milchstraße verschmolzen. Das ist eine weitere eindrucksvolle Bestätigung dessen, was kosmologische Simulationen über Frühgeschichte unserer Heimatgalaxie aussagen.

Könnten wir sogar die Vorläufer-Galaxien der Milchstraße identifizieren?

Gaias globale Sicht der Milchstraße hat für sich genommen bereits einen grundlegenden Fortschritt in Form der hier vorgestellten Ergebnisse ermöglicht: den Nachweis, dass sich Sterne des „armen alten Herzens“ unserer Milchstraße heute noch identifizieren lassen. Diese Entdeckung weckt bei den Astronom*innen allerdings gleich den Wunsch, noch mehr zu erfahren: Kann man für noch deutlich mehr oder sogar alle dieser Sterne detailliertere Spektren erhalten, die eine genauere Analyse ihrer chemischen Zusammensetzung ermöglichen? Werden die so analysierten Sterne alle eine Alpha-Anreicherung aufweisen, die mit ihrer Entstehung im ursprünglichen Kern der Milchstraße übereinstimmt? Folgespektren, die im Rahmen der kürzlich gestarteten SDSS-V-Durchmusterung oder der bevorstehenden 4MOST-Durchmusterung, an denen das MPIA beteiligt ist, aufgenommen werden, versprechen genau diese Art von weiterer Untersuchung.

Wenn es besonders gut läuft, könnten die zusätzlichen Daten den Forschern sogar den Nachweis ermöglichen, welche Sterne in der Kernregion zu welchen der verschiedenen Vorläufergalaxien der Milchstraße gehören: Bei älteren Sternen wie jenen des armen alten Herzens ermöglichen die zusätzlichen Daten zu chemischer Zusammensetzung und Temperatur eine zuverlässige Abschätzung der Leuchtkraft des Sterns. Aus dem Vergleich der Leuchtkraft mit der Helligkeit des Sterns am Himmel lässt sich die Entfernung des Sterns ableiten – je weiter ein Stern entfernt ist, desto weniger hell sehen wir ihn am Himmel. Für vergleichsweise weit entfernte Sterne rund um das Zentrum unserer Galaxie sind die auf diese Weise ermittelten Entfernungswerte wesentlich genauer als die Ergebnisse der Parallaxenmessungen von Gaia.

Die Kombination aus der Position eines Sterns am Himmel und seiner Entfernung gibt uns die dreidimensionale Position des Sterns innerhalb der Milchstraße an. In Verbindung mit Informationen über die Radialgeschwindigkeit des Sterns (d. h. die Komponente seiner Bewegung, die direkt von uns weg oder direkt auf uns zu läuft), die ebenfalls aus dem Spektrum abgelesen werden kann, ermöglicht die Kenntnis der Sternposition eine Rekonstruktion der Umlaufbahn des Sterns in unserer Heimatgalaxie. Ergibt sich bei solch einer Analyse, dass die Sterne des armen alten Herzens zu zwei oder drei voneinander unterscheidbaren Gruppen gehören, jede davon mit einem charakteristischen Bewegungsmuster, dann stehen die Chancen gut, dass jene Gruppen den Überresten der zwei oder drei Vorläufergalaxien entsprechen, aus deren anfänglicher Verschmelzung die urtümliche Milchstraße entstanden ist.

Hintergrundinformationen

Die hier beschriebenen Ergebnisse wurden als Hans-Walter Rix et al., „The Poor Old Heart of the Milky Way“, im Astrophysical Journal veröffentlicht.

Die beteiligten MPIA-Forscher sind Hans-Walter Rix, René Andrae, Morgan Fouesneau und David Hogg (außerdem New York University und Flatiron Institute)

in Zusammenarbeit mit

Vedant Chandra (Center for Astrophysics | Harvard & Smithsonian) und David H. Weinberg (Ohio State University).

MP

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