Kosmische Geschwindigkeitskontrolle offenbart überraschend unruhigen massereichen Sternhaufen

2. Juni 2010

Mit Hilfe des NASA/ESA-Weltraumteleskops Hubble haben Astronomen des Max-Planck-Instituts für Astronomie in Heidelberg und der Universität zu Köln Sternbewegungen in einem der massereichsten jungen Sternhaufen der Milchstraße hochpräzise vermessen. Dazu verglichen sie Beobachtungen, die zehn Jahre auseinander liegen. Der Vergleich liefert die Bewegungen von Hunderten von Sternen – und eine Überraschung: Unerwarteter Weise haben die Sterne des Haufens noch keinen langfristig stabilen Gleichgewichtszustand erreicht. Die Ergebnisse sind als »Letter« im Astrophysical Journal veröffentlicht worden.

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Offene Sternhaufen (wie die bekannten Plejaden) sind nicht von Dauer: Im Laufe von Dutzenden von Millionen Jahren laufen ihre Sterne auseinander. Bei sehr massereichen und kompakten Sternhaufen ist das anders: Langfristig können sich aus ihnen langlebige »Kugelsternhaufen« entwickeln, deren dicht gepackte Sterne über Milliarden von Jahren hinweg zusammenbleiben.

Mit mehr als 10.000 Mal der Masse der Sonne, konzentriert in einem Volumen mit nur drei Lichtjahren Durchmesser, ist der junge Sternhaufen in dem Nebel NGC 3603 einer der kompaktesten Sternhaufen in unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße.[1] (Zum Vergleich: In unserer direkten kosmischen Nachbarschaft findet sich im gleichen Volumen nur ein einziger Stern, nämlich unsere Sonne.) Wird er sich zu einem Kugelsternhaufen entwickeln?

Dieser Frage ist eine Gruppe von Astronomen unter der Leitung von Wolfgang Brandner (Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg, MPIA) nachgegangen, indem sie die Bewegung von hunderten der Sterne des Haufens verfolgt hat. Solche Untersuchungen können zeigen, ob der Haufen auseinanderdriftet, oder ob er sich anschickt, zur Ruhe, sprich: zu einem langfristig stabilen Gleichgewichtszustand zu kommen. Außerdem erlauben sie es, die Sterne des Haufens von unbeteiligten Sternen zu unterscheiden, die nur zufällig von der Erde aus gesehen in der gleichen Blickrichtung stehen.

Die dafür nötigen Messungen sind ausnehmend schwierig. Zum Vergleich: Angenommen, ein Stern bewege sich von der Erde aus gesehen mit einer Geschwindigkeit von einigen Kilometern pro Sekunde seitwärts – eine typische Geschwindigkeit für Sterne in Sternhaufen. Aus einer Entfernung von 20.000 Lichtjahren betrachtet (dem Abstand von NGC 3603 zur Erde) verändert sich die Position eines solchen Sterns am Nachthimmel nur um einige Milliardstel eines Winkelgrads pro Jahr. Auch mit modernsten Instrumenten und Auswertungsmethoden stellt der Nachweis solch winziger Verschiebungen eine große Herausforderung dar.

Mit Hilfe zweier Beobachtungen, die im Abstand von zehn Jahren mit ein und derselben Kamera des Weltraumteleskops Hubble durchgeführt wurden, und dank aufwändiger Auswertungen, die eine Vielzahl von Störquellen berücksichtigen, konnten Brandner und seine Kollegen die nötige Genauigkeit erreichen.

Insgesamt beobachteten die Astronomen 800 Sterne. Rund 50 davon stellten sich als Vordergrundsterne heraus, die nicht zu dem betrachteten Sternhaufen gehörten. Für 234 der übrigen mehr als 700 Sterne – eine im Hinblick auf Masse und Oberflächentemperatur recht vielfältige Auswahl – konnten die Astronomen hinreichend genaue Geschwindigkeitsmessungen vornehmen.[2] Boyke Rochau (MPIA), der Erstautor des Fachartikels, in dem die neuen Ergebnisse präsentiert werden, hat sich im Rahmen seiner Doktorarbeit um die Auswertung der hier beschriebenen Beobachtungen gekümmert. Er erklärt: »Unsere Messungen sind bis auf 27 Millionstel einer Bogensekunde pro Jahr genau. Stellen Sie sich einen Beobachter in Bremen vor, der aus der Ferne ein Objekt in Wien beobachtet. Bewegt sich dieses Objekt um die Breite eines menschlichen Haares zur Seite, dann ändert sich seine scheinbare Position um 27 Millionstel einer Bogensekunde.« [3]

Die Verteilung der Sterngeschwindigkeiten überraschte die Forscher. Folgt man weithin akzeptierten Modellen, die mit den Beobachtungen an älteren Kugelsternhaufen gut übereinstimmen, dann sollte die Geschwindigkeit der Sterne in Haufen wie demjenigen in NGC 3603 mit ihrer Masse zusammenhängen: Im Mittel sollten sich Sterne mit geringerer Masse schneller, solche mit größerer Masse langsamer bewegen[4]. Die Sterne des Haufens, für die sich die Geschwindigkeiten hinreichend genau bestimmen ließen, haben Massen zwischen 2 und 9 Sonnenmassen. Doch ihre mittlere Geschwindigkeit hängt nicht von der Masse ab, sondern beträgt durchweg rund 4,5 Kilometer pro Sekunde (entsprechend einer Positionsänderung von rund 140 Millionstel Bogensekunden pro Jahr).

Offenbar – und überraschender Weise – hat sich in diesem massereichen Sternhaufen noch kein Gleichgewicht eingestellt. Stattdessen dürften die Sterngeschwindigkeiten nach wie vor maßgeblich von den Bedigungen geprägt sein, die bei der Entstehung des Haufens herrschten, vor rund einer Million Jahren. Andrea Stolte von der Universität zu Köln, ein weiteres Mitglied des Astronomenteams, fasst zusammen: »Unsere Messungen liefern Schlüsselinformationen für diejenigen Astronomen, die verstehen wollen, wie solche Sternhaufen entstehen und wie sie sich weiterentwickeln."

Die spannende Frage, ob der massereiche junge Sternhaufen in NGC 3603 zu einem Kugelsternhaufen werden wird, bleibt offen. Den neuen Ergebnissen nach hängt die Antwort davon ab, welche Geschwindigkeiten die Haufensterne haben, deren Massen besonders klein sind. Diese Sterne sind zu leuchtschwach, als dass sich ihre Geschwindigkeiten mit Hilfe des Hubble-Weltraumteleskops genau genug messen ließen. Wolfgang Brandner erklärt: »Um herauszufinden, ob die Sterne dieses Haufens mit der Zeit auseinanderlaufen werden oder nicht, sind wir auf die nächste Generation von Teleskopen angewiesen, etwa das James Webb Space Telescope (JWST), oder das European Extremely Large Telescope (E-ELT) der ESO.« [5]

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Hintergrundinformationen

Der Artikel, in dem diese Forschungsergebnisse beschrieben werden, ist B. Rochau et al., "Internal dynamics and membership of NGC 3603 Young Cluster from microarcsecond astrometry", veröffentlicht als "Letter" in der Ausgabe des Astrophysical Journal vom 10. Juni 2010.

Die Mitglieder der Forschergruppe sind Wolfgang Brandner, Boyke Rochau, Mario Gennaro, Dimitrios Gouliermis, Nicola Da Rio, Natalia Dzyurkevich und Thomas Henning vom Max-Planck-Institut für Astronomie (MPIA) in Heidelberg, und Andrea Stolte von der Universität zu Köln.

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Endnoten

[1]   Der Nebel liegt in der Mittelebene der Scheibe unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße, im so genannten Carina-Spiralarm. Er ist mehr als 20,000 Lichtjahre von der Erde entfernt.
[2]   Sowohl für sehr massereiche als auch für sehr massearme Sterne lässt sich die nötige Genauigkeit nicht erreichen. Dort, wo massereiche und damit typischerweise sehr helle Sterne als Scheibchen auf der Detektorfläche abgebildet werden, tritt Sättigung ein, und die Mitte dieser Sternscheibchen kann darum nur vergleichsweise ungenau bestimmt werden. Sterne mit geringer Masse sind umgekehrt zu leuchtschwach, und heben sich damit nicht klar genug vom Hintergrund ab ("niedriges Verhältnis vom Signal zum Rauschen"), als dass Positionsbestimmungen der benötigten Genauigkeit möglich wären.
[3]   Genauer gesagt sollten alle diese Sterne im Mittel die gleiche Bewegungsenergie haben. Bewegungsenergie ist proportional zur Masse eines Objekts, und zum Quadrat seiner Geschwindigkeit. Dementsprechend sollten Sterne mit der Hälfte der Sonnenmasse sich im Mittel vier Mal so schnell bewegen wie Sterne mit einer Sonnenmasse.
[4]   Beobachter und Objekt sind dann 800 km voneinander entfernt.
[5]   Das James Webb Space Telescope (JWST) ist ein geplantes Infrarot-Weltraumteleskop mit einem Spiegeldurchmesser von 6,5 Metern, das in internationaler Partnerschaft unter Leitung der NASA entwickelt wird und 2014 ins All geschossen werden soll. Das European Extremely Large Telescope (wörtlich das "Europäische extrem große Teleskop") ist ein bodengebundenes Teleskop der nächsten Generation, dessen Spiegel einen Durchmesser von 42 Metern haben soll. Es wird von einem internationalen Konsortium unter Leitung der Europäischen Südsternwarte (ESO) entwickelt, und soll 2018 fertiggestellt sein. Bei beiden Teleskopen sind deutsche Institute, etwa das Max-Planck-Institut für Astronomie, an der Entwicklung von Komponenten und Instrumenten beteiligt.

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Fragen und Antworten


Warum laufen die Sterne normaler Sternhaufen mit der Zeit auseinander, während die Sterne in kompakten und massereichen Haufen zusammenbleiben?
Offene Sternhaufen und Sternassoziationen entstehen, wenn riesige Wolken aus Gas und Staub kollabieren und sich dabei neue Sterne bilden. Solche Wolken haben Massen zwischen 10 und 100.000 Sonnenmassen, verteilt auf Volumina mit Durchmessern von bis zu 300 Lichtjahren. Die Sternentstehung läuft vergleichsweise langsam ab, und am Ende sind im Laufe von einigen Millionen von Jahren hunderte bis tausende Sterne entstanden, deren Masse allerdings nur rund 10% der Gesamtmasse der ursprünglichen Wolke ausmacht.

Die restlichen 90% der Masse driften in Form von interstellarem Gas und Staub durch den Haufen und werden mit der Zeit in die Tiefen des Alls hinaus geblasen: Junge Sterne senden typischerweise intensives Licht und Teilchenstrahlung ("Sternwind") aus. Aufgrund des hohen Masseverlusts schwächt sich auch die Schwerkraftwirkung des Haufens ab. Über Zeiträume von einigen zehn Millionen Jahren driften die Sterne auseinander, und der Sternhaufen verläuft sich.

In kompakten, massereichen Wolken wie denen in NGC 3603 bilden sich Sterne dagegen deutlich schneller und effizienter. Bei diesen so genannten "Starburst-Haufen" entstehen Sterne, die am Ende rund die Hälfte der Masse der ursprünglichen Wolke in sich vereinigen. So behält der Haufen einen Großteil seiner Gravitationswirkung, und die Sterne bleiben auch langfristig an den Haufen gebunden.

Was mussten die Astronomen tun, um eine derart hohe Genauigkeit zu erreichen?
Die Astronomen mussten Beobachtungen vergleichen, die ein Jahrzehnt auseinander liegen, sie mussten sicher stellen, dass die beiden Beobachtungen unter so gut wie denselben Bedingungen vorgenommen wurden, und sie mussten die unvermeidlichen kleinen Unterschiede in den Beobachtungsbedingungen systematisch berücksichtigen.

Geht es um derart geringe Positionsunterschiede, dann kann sich bereits der Vergleich von Beobachtungen unterschiedlicher Teleskope oder unterschiedlicher Beobachtungen mit einem Teleskop, das sich über die Jahre etwas verändert hat, sehr schwierig gestalten. Für bodengebundene Teleskope kommt hinzu, dass bereits geringe Unterschiede in der Wetterlage zum Zeitpunkt der beiden Beobachtungen die Auswertung unmöglich machen können.

Brandner und seine Kollegen verwendeten daher das Weltraumteleskop Hubble. In den Datenarchiven des Teleskops fanden sie Bilddaten für NGC 3603, die im Juli 1997 mit der Wide Field and Planetary Camera 2 (WFPC2, wörtlich die "Planeten-Kamera und Kamera mit großem Gesichtsfeld") aufgenommen worden waren. Im September 2007 führten sie Beobachtungen des gleichen Himmelsgebiets mit derselben Kamera im selben Betriebsmodus durch. Obwohl die Beobachtungsbedingungen einander damit so ähnlich waren wie nur möglich, dauerte es rund zwei Jahre, die Daten auszuwerten. Dabei wurde eine Vielzahl kleiner Störeffekte berücksichtigt, von den unterschiedlichen Empfindlichkeiten der verschiedenen Kamerapixel bis zu der leichten Erwärmung, die das Weltraumteleskop bei jeder seiner Erdumkreisungen durch die Sonne erfährt.

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