Astronomen lösen das Entfernungsrätsel einer Galaxie – und finden heraus, dass sie Gesellschaft hat

13. Juni 2012

Ein internationales Team von Astronomen um Fabian Walter vom Max-Planck-Institut für Astronomie hat erstmals den Abstand der Galaxie HDF850.1 bestimmt, einer der im Hinblick auf die Entstehung neuer Sterne produktivsten Galaxien überhaupt. HDF850.1 ist demnach 12,5 Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt. Wir sehen die Galaxie deswegen so, wie sie vor 12,5 Milliarden Jahren war, also zu einer Zeit, als der Kosmos weniger als 10% so alt war wie heute. Die Galaxie scheint zusammen mit rund einem Dutzend weiterer Galaxien einen Proto-Galaxienhaufen zu bilden, der weniger als eine Milliarde Jahre nach dem Urknall entstanden ist – einer von nur zwei bislang bekannten Haufen dieser Art. Die Arbeit der Forscher ist jetzt in der Fachzeitschrift Nature erschienen.

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Die Galaxie HDF850.1 ist unter Astronomen bekannt für die enorme Mengen neuer Sterne, die sie produziert: pro Jahr Sterne mit einer Gesamtmasse von eintausend Sonnenmassen. In normalen Galaxien wie unserer Milchstraße entsteht gerade mal ein Tausendstel dieser Menge. Doch trotz solcher Prominenz war HD850.1 in einer Hinsicht nur sehr schwer zu fassen: Die Astronomen hatten vierzehn Jahre lang große Schwierigkeiten, den Abstand der Galaxie von der Erde zu bestimmen.

Hintergrund der Schwierigkeiten ist, dass die Galaxie HDF850.1, die sich in einer Himmelsregion namens »Hubble Deep Field« (wörtlich das »tiefe Hubble-Feld«) befindet, für Beobachtungen mit normalem, sichtbaren Licht unsichtbar ist. Nachgewiesen wurde sie stattdessen mit Hilfe von Submillimeter-Strahlung (Wellenlängenbereich zwischen einigen Zehntel Millimetern und einem Millimeter), mit der sich insbesondere kühle Gas- und Staubwolken beobachten lassen.

Konkret war HDF850.1 im Jahre 1998 bei Beobachtungen mit dem James Clerk Maxwell-Teleskop auf Hawaii als bei weitem hellste Quelle von Submillimeterstrahlung im gesamten Hubble Deep Field entdeckt worden. Als die Forscher anschließend Aufnahmen des Weltraumteleskops Hubble auswerteten, erlebten sie eine Überraschung: HDF850.1 ist in diesen Aufnahmen komplett unsichtbar!

Letzterer Umstand ist kein großes Rätsel. Fabian Walter (MPIA) erklärt: »Neue Sterne entsstehen im Inneren dichter Wolken aus Gas und Staub. Solche Wolken sind für normales Licht komplett undurchsichtig, so dass die leuchtenden Sterne der Galaxie den irdischen Teleskopen verborgen bleiben; Submillimeterstrahlung dagegen kann selbst dicke Gas- und Staubwolken weitgehend ungehindert durchqueren und bietet damit ungestörte Einblicke in das Wolkeninnere. Liegen über eine Galaxie wie HDF850.1 lediglich Daten aus einem sehr engen Teilbereich des elektromagnetischen Spektrums vor, dann ist es sehr schwierig, die Entfernung der Galaxie und damit ihren Platz in der Geschichte unseres Universums zu bestimmen.«

Nun hat eine internationale Gruppe von Forschern um Fabian Walter vom Max-Planck-Institut für Astronomie das Rätsel der Entfernung von HDF850.1 gelöst. Mit Hilfe neuer Instrumente am IRAM-Interferometer auf dem Plateau de Bure, bei dem sechs Radioantennen zu einem gigantischen Millimeter-Teleskop zusammengeschaltet werden, konnten sie charakteristische Eigenschaften (»Spektrallinien«) des Lichts von HDF850.1 identifizieren, anhand derer eine genaue Entfernungsbestimmung möglich ist. Pierre Cox, der Direktor von IRAM, erklärt: »Nur dank der neuen Instrumente, die jetzt am IRAM-Interferometer installiert sind, konnten wir diese schwachen Linien in HDF850.1 nachweisen und endlich finden, wonach Astronomen in den letzten 14 Jahren vergeblich gesucht haben.«

Das Ergebnis ist überraschend: Die Galaxie befindet sich 12,5 Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt (sog. Rotverschiebung z ~ 5.2). Wir sehen die Galaxie daher so, wie sie vor 12,5 Milliarden Lichtjahren war, zu einer Zeit, als das Universum als Ganzes nur 1,1 Milliarden Jahre alt war! Die spektakulär hohen Sternentstehungsraten von HDF850.1 gehören damit in eine kosmische Epoche, in der das Universum weniger als 10% so alt war wie heute.

Weitere Beobachtungen mit dem Karl Jansky-Very Large Array (VLA) der amerikanischen National Science Foundation zeigten den Forschern, dass ein ungewöhnlich großer Bruchteil der Masse der Galaxie in Form von Molekülen vorliegt – dem Rohmaterial für neue Sterne.

Sobald die Entfernung bekannt war, konnten die Forscher die Galaxie in den richtigen kosmischen Zusammenhang einordnen. Mit Hilfe weiterer Daten aus veröffentlichten ebenso wie aus noch unveröffentlichten Himmelsdurchmusterungen konnten sie zeigen, dass die Galaxie Teil einer sehr frühen Sorte von Galaxienhaufen sein dürfte. Vorher war erst ein einziger solcher Protohaufen aus der Frühzeit des Universums bekannt gewesen.

Die neuen Forschungsergebnisse machen außerdem die Bedeutung von zukünftigen, leistungsfähigeren Interferometern im Submillimeter- und Millimeterbereich deutlich. Dazu gehört NOEMA, eine zukünftige Erweiterung des Interferometers auf dem Plateau de Bure, ebenso wie ALMA, ein neues Verbundteleskop für Submillimeter- und Millimeterstrahlung, das derzeit von einem internationalen Konsortium in der chilenischen Atacama-Wüste errichtet wird. Beide Anlagen werden im Submillimeter- und Millimeterbereich Beobachtungen mit nie zuvor erreichbarer Detailschärfe erlauben. Damit sollte das Verbundteleskop Entfernungsbestimmungen und weitere Untersuchungen für viele noch weiter entfernte Galaxien ermöglichen, die im frühen Universen aktiv Sterne gebildet haben, aber im sichtbaren Licht unsichtbar bleiben.

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Hintergrundinformationen

Die hier beschriebenen Ergebnisse werden am 14. Juni 2012 als F. Walter et al., »The Intense Starburst HDF850.1 in a Galaxy Overdensity at z = 5.2 in the Hubble Deep Field«, in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Die Autoren der Studie sind Fabian Walter (Max-Planck-Institute für Astronomie [MPIA] and National Radio Astronomy Observatory [NRAO], Socorro), Roberto Decarli (MPIA), Chris Carilli (NRAO und Cambridge University), Frank Bertoldi (Universität Bonn), Pierre Cox (IRAM), Elisabete Da Cunha (MPIA), Emanuele Daddi (CEA Saclay), Mark Dickinson (NOAO, Tucson), Dennis Downes (IRAM), David Elbaz (CEA Saclay), Richard Ellis (Caltech), Jacqueline Hodge (MPIA), Roberto Neri (IRAM), Dominik Riechers (Caltech), Axel Weiss (Max-Planck-Institut für Radioastronomie [MPIfR]), Eric Bell (University of Michigan, Ann Arbor), Helmut Dannerbauer (Universität Wien), Melanie Krips (IRAM), Mark Krumholz (UCSC), Lindley Lentati (Cambridge University), Roberto Maiolino (INAF-Osservatorio Astronomico di Roma und Cambridge University), Karl Menten (MPIfR), Hans-Walter Rix (MPIA), Brant Robertson (University of Arizona), Hyron Spinrad (UC Berkeley), Dan Stark (University of Arizona) und Daniel Stern (Jet Propulsion Laboratory).

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Fragen und Antworten

Was ist das Hubble Deep Field, und was ist so besonders an dieser Himmelsregion?
Das Hubble Deep Field (HDF) ist eine Himmelsregion im Sternbild Ursa Major (Große Bärin), die am Nachthimmel weniger als ein Prozent der Fläche der Vollmondscheibe einnimmt. In dieser Region liegen keine näheren Sterne oder Galaxien, und in dieser speziellen Blickrichtung wird der Blick ins ferne Weltall durch Gas- und Staub unserer eigenen Heimatgalaxie, der Milchstraße, nur sehr wenig getrübt (»geringe galaktische Extinktion«). Weiterhin hat die Region den Vorteil, dass sie im Blickfeld des Weltraumteleskop Hubble liegt, ganz egal, wo dieses sich auf seiner Umlaufbahn gerade befindet. Mit dieser Kombination von Eigenschaften ist das HDF besser als fast alle anderen Himmelsregionen geeignet, um ferne Galaxien zu untersuchen. Bereits bei der ersten HDF-Durchmusterung mit dem Hubble-Weltraumteleskop fanden die Astronomen 3000 entfernte Galaxien; der Entfernungsrekord lag bei 12 Milliarden Lichtjahren (z ~ 4). Beobachtungen im HDF haben seither umfangreiche Studien ermöglicht, die zeigen, wie sich Galaxien im Laufe der kosmischen Geschichte verändern und entwickeln.

Wie misst man Entfernungen für so weit entfernte Galaxien, und was hat das mit der Geschichte unseres Universums zu tun?
Für sehr weit entfernte Himmelsobjekte lässt sich die Entfernung von der Erde vergleichsweise genau indirekt bestimmen. Seit dem Urknall ist das Universum immer weiter expandiert, und alle fernen Galaxien haben sich immer weiter voneinander entfernt. Eine direkte Konsequenz daraus ist die so genannte kosmologische Rotverschiebung: Ein fernes Objekt sieht umso rötlicher aus, je weiter entfernt von der Erde es sich befindet (etwas genauer: je größer die Entfernung des Objekts, umso größer ist der Faktor, um den sein Licht hin zu niedrigen Frequenzen verschoben ist).

Wer die Entfernung eines astronomischen Objekts kennt, gewinnt damit mehr als nur Informationen über dessen räumliche Lage. Astronomen sehen zwangsläufig in die Vergangenheit: Beobachten wir die Sonne, dann sehen wir sie immer so, wie sie vor 8 Minuten war, nie so, wie sie jetzt in diesem Moment ist, denn das Licht der Sonne benötigt 8 Minuten, um einen irdischen Beobachter zu erreichen. Bei der Andromeda-Galaxie beträgt die Verzögerung bereits 2,5 Millionen Jahre, denn solange benötigt das Licht dieser Galaxie, um zur Erde zu gelangen. Wer die Entfernung eines Objekts kennt, der weiss, wie weit er bei Betrachtung des betreffenden Objekts in die Vergangenheit zurück blickt. Diese Information ist wiederum unverzichtbar, wenn man die Geschichte unseres Kosmos rekonstruieren möchte: Wann entstanden die ersten Galaxien? Haben frühe Galaxien mehr Sterne produziert als heutige? Hängt die Entwicklung von Galaxien mit der Masse ihres zentralen supermassereichen Schwarzen Lochs zusammen? Solche und viele andere Fragen lassen sich nur beantworten, wenn man weiß, wo in der Geschichte des Kosmos die Objekte, die man beobachtet, einzuordnen sind. Und dazu wiederum muss man ihre Entfernung kennen.

Warum war es so schwierig, die Entfernung von HDF850.1 zu bestimmen, und wie wurde dieses Ziel schließlich erreicht?
Üblicherweise ist die scheinbare Helligkeit eines Objekts ein Anhaltspunkt für seine Entfernung: Je leuchtschwächer ein Objekt, desto weiter ist es von uns entfernt. Im Submillimeter-Wellenlängenbereich, wo HDF850.1 erstmals beobachtet wurde, ist das anders: Bei diesen Wellenlängen spielen kosmologische Rotverschiebung (verkürzt: je weiter entfernt ein Objekt, umso röter erscheint es), die Form des Spektrums solcher Galaxien und die mit der Entfernung abnehmende Leuchtkraft so zusammen, dass die Helligkeit der betreffenden Galaxien so gut wie gar nicht von ihrer Entfernung abhängt. Da HDF850.1 nur bei Submillimeter-Wellenlängen beobachtet worden war, gab es keinerlei Hinweise auf die Entfernung der Galaxie.

Ohne bereits eine grobe Vorstellung von der Entfernung zu haben, ist die Suche nach bestimmten Spektrallinien – spezifischen Wellenlängen, bei denen ein Objekt sehr viel mehr Licht aussendet als anderswo – eine Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen. Ungünstig ist dabei, dass Empfänger für Radio-, Millimeter- oder Submillimeterstrahlung, mit deren Hilfe sich die Wellenlänge des aufgefangenen Lichts bestimmen lässt, typischer Weise jeweils nur in sehr engen Wellenlängenbereichen arbeiten. Das sind keine guten Voraussetzungen für eine Suche, die einen möglichst weiten Wellenlängenbereich durchforsten muss.

Die Forschung von Walter und seinen Kollegen war nur möglich, weil am IRAM-Interferometer kürzlich neue Empfänger installiert wurden, die größere Wellenlängenbereiche erfassen können. Mit diesen Empfängern durchmusterten die Astronomen in zehn verschiedenen Wellenlängenbändern eine Region des Hubble Deep Field, in der sich zufällig auch HDF850.1 befindet. Sie konnten dabei Kandidaten für zwei Spektrallinien identifizieren, die durch bestimmte Rotationsschwingungen von Kohlenstoffmonoxidmolekülen, CO(6-5) und CO(5-4), erzeugt werden. Bestätigen konnten die Forscher ihre Identifikation auf zwei unabhängige Arten und Weisen: Wenn dies tatsächlich die CO(6-5) und CO(5-4)-Linien waren, dann sollte auch die Spektrallinie [CII] des einfach ionisierten Kohlenstoffs mit dem IRAM-Interferometer beobachtbar sein, und zwar bei einer Frequenz von 307 GHz. Genau dort fanden die Forscher die betreffende Linie. Außerdem sollte eine weitere Rotationslinie des Kohlenstoffmonoxids, CO(2-1), bei einer Frequenz von 37,3 GHz liegen. Um bei dieser Frequenz eine Messung vornehmen zu können, nutzte das Team das Jansky Very Large Array, ein großes Verbundteleskop in New Mexico, USA, und fand die CO(2-1)-Linie exakt dort, wo sie zu erwarten war. Damit war die Identifikation der Spektrallinien gesichert, mit ihr auch die Rotverschiebung und damit auch die Entfernungsbestimmung für HDF850.1.

Wie misst man Entfernungen für so weit entfernte Galaxien, und was hat das mit der Geschichte unseres Universums zu tun?
Auf kosmologischen Größenskalen gibt es verschiedene Arten und Weisen, Abstände zu definieren. In MPIA-Pressemitteilungen verwenden wir üblicher Weise die Lichtlaufzeit: Wenn Licht 12,5 Milliarden Jahre benötigt, um uns von einem fernen Objekt zu erreichen, dann sagen wir, das Objekt sei 12,5 Milliarden Lichtjahre entfernt. Eine weitere übliche Entfernungsdefinition, die in der Hubble-Relation verwendet wird, beruht auf dem Konzept der kosmischen Zeit und berücksichtigt die Expansion des Universums; dieser Definition nach ist HDF850.1 sogar 26 Milliarden Lichtjahre von uns entfernt.

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