Eine Galaxie tankt auf

2. Oktober 2013


Astronomen unter der Leitung von Neil Crighton (Max-Planck-Institut für Astronomie und Swinburne University of Technology) haben kalte Materieströme von Wasserstoff aus der Frühzeit des Universums beobachtet, die in eine ferne Galaxie fließen und dort als Grundstoff für die Entstehung neuer Sterne dienen. Solche Ströme sind ein wichtiger Bestandteil von Modellen, die eine Ära intensiver Sternentstehung vor rund 10 Milliarden Jahren erklären sollen. Die Entdeckung nutzte einen kosmischen Zufall: einen fernen, hellen Quasar, der das Gas wie eine Art kosmischer Scheinwerfer von hinten anleuchtet. Die Entdeckung wurde in der Fachzeitschrift Astrophysical Journal Letters veröffentlicht.

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Um die Entstehung von Galaxien wie unserer Milchstraße zu erklären, gehen Kosmologen davon aus, dass solche Galaxien einst große Mengen an kosmischer Materie aus riesigen Reservoirs von Wasserstoff an sich gezogen haben. Dieser Wasserstoff treibt seit der Frühzeit des Universums in den Weiten des Raumes zwischen den Galaxien. Vor rund zehn Milliarden Jahren, als unser Kosmos nur rund ein Fünftel so alt war wie heute, produzierten die damaligen Protogalaxien massenweise Sterne – mehr als hundert Mal soviel wie es für heutige Galaxien typisch ist. Da Sterne aus Gas entstehen, ist notwendige Vorbedingung für solche Rekordproduktion, dass hinreichend Nachschub an Sternen-Rohmaterial zur Verfügung steht.

Über die letzten zehn Jahre hinweg haben Computersimulationen solcher kosmischen Szenarien große Fortschritte gemacht. Sie geben Auskunft darüber, wie Galaxien an den »Treibstoff« für ihre Sternproduktion gelangen dürften: Gas fließt demnach über schmale, kalte Materieströme in die Galaxien. Wie Rinnsale aus der Schneeschmelze, die einen Bergsee speisen, findet auf diese Weise immer wieder neues Rohmaterial für die Sternentstehung seinen Weg in die Galaxien (Birnboim & Dekel 2003, MNRAS, 345, 349; Dekel et al. 2009, Nature, 457, 451).

Nachzuprüfen, ob dieses Szenario der Wirklichkeit entspricht, ist alles andere als einfach. Entsprechendes Gas in den Randregionen und der unmittelbaren Umgebung einer Galaxie ist viel zu weit verdünnt, als dass es nachweisbare Mengen von Licht aussenden würde. Astronomen suchen daher systematisch nach einer ganz bestimmten Sorte von kosmischem Zufall: Quasare sind Galaxien in einem kurzlebigen Zwischenstadium ihrer Entwicklung. Angetrieben durch Prozesse rund um das supermassereiche Schwarze Loch im Zentrum wird eine solche Galaxie zwischenzeitlich zu einem der hellsten Objekte im Universum überhaupt. In einigen (sehr seltenen!) Fällen wird ein Quasar aus Sicht eines irdischen Beobachters zufällig direkt hinter einer der gesuchten intergalaktischen Gaswolken stehen. Dann absorbiert das Gas bestimmte Anteile des Quasarlichts – Astronomen sprechen von »Absorptionslinien«. Muster und Formen der Linien geben den Astronomen Informationen über Dichte, chemische Zusammensetzung und Temperatur des Gases.

Auf diese Weise hat jetzt ein Astronomenteam unter der Leitung von Neil Crighton vom Max-Planck-Institut für Astronomie (inzwischen an der Swinburne University of Technology) das bislang überzeugendste Beispiel für Gas aus einem der intergalaktischen Reservoirs erbracht, das in eine Galaxie fließt. Die Galaxie mit der Katalognummer Q1442-MD50 ist soweit von uns entfernt, dass ihr Licht elf Milliarden Jahre benötigt hat, um uns zu erreichen. Das einströmende Gas befindet sich, nach galaktischen Maßstäben beurteilt, direkt in der Nachbarschaft, nämlich nur 190.000 Lichtjahre von der Galaxie entfernt. Es verrät seine Anwesenheit, indem es einen Teil des Lichts des noch deutlich weiter entfernten Quasars QSO J1444535+291905 absorbiert.

Eine Besonderheit ist dabei, dass Crighton und seinen Kollegen in der Gaswolke Spuren von schwerem Wasserstoff nachweisen konnten (Deuterium; Wasserstoff mit einem Neutron im Atomkern). Die Atomkerne dieser und einiger weiterer Sorten von Elementen entstanden nach heutigem Wissen wenige Minuten nach dem Urknall. Alle schwereren Elemente, etwa Kohlenstoff oder Stickstoff, entstanden erst später, insbesondere im heißen Inneren von Sternen. Deuterium allerdings kann in Sternen nicht erzeugt werden. Im Gegenteil wird bereits existierendes Deuterium unter den dort herrschenden Bedingungen rapide zerstört! Die Anwesenheit von Deuterium zeigt daher an, dass es sich nicht um eine Wolke von Gas handelt, die jemals Bestandteil eines Sterns war – sondern wohl tatsächlich um urtümliches Gas: um Materie aus den großen Wasserstoffreservoiren, die seit der Urknallphase chemisch so gut wie unverändert geblieben sind.

Neil Crighton erklärt: »Dies ist nicht das erste Mal, das Astronomen mithilfe eines Quasars Gas in der Nachbarschaft einer fernen Galaxie gefunden haben. Aber es ist das erste Mal, dass alle Teile des Puzzles zusammenpassen: In der Galaxie, die wir beobachtet haben, entstehen gerade jetzt enorme Mengen von Sternen. Und für das Gas konnten wir zeigen, dass es sich tatsächlich um urtümliches Gas aus der Zeit direkt nach dem Urknall handelt.«

Die Entdeckung des Systems gelang im Rahmen einer großangelegten Durchmusterung, bei welcher gezielt nach Quasaren gesucht wurde, die am Himmel in unmittelbarer Nähe von nähergelegenen Galaxien stehen. Koordiniert wird die Durchmusterung von Joseph Hennawi, der am Max-Planck-Institut für Astronomie die ENIGMA-Forschungsgruppe leitet. Hennawi sagt: »Weil diese Entdeckung Teil einer systematischen Suche ist, können wir darauf schließen, dass derartige kalte Materieströme vergleichsweise häufig sind: Wir haben nämlich nur 12 Quasar-Galaxien-Paare ausfindig machen müssen, um auf dieses Beispiel zu stoßen. Das entspricht grob den Vorhersagen der Supercomputer-Simulationen – ein Grund zur Zuversicht, was unser Verständnis der Entstehung dieser Art von Galaxien angeht.«

Ziel der Astronomen ist es jetzt, insgesamt etwa zehn ähnliche Beispiele für solche kalten Gasströme zu finden. Das würde noch wesentlich genauere Vergleiche der Beobachtungen mit den Vorhersagen numerischer Simulationen erlauben. Für die Suche nach weiteren Quasar-Galaxienpaaren nutzen die Forscher das Large Binocular Telescope in Arizona und das Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte (ESO) in Chile. J. Xavier Prochaska (University of California at Santa Cruz), der an der Durchmusterung mitarbeitet, sagt: »In früheren Studien haben wir Anzeichen für Gas gefunden, das aus Galaxien hinausströmt. Aber mit Neils sehr viel genauerer Untersuchung können wir auch Zeichen dafür sehen, dass urtümliches Gas in die Galaxien strömt, und wir können nachvollziehen, wieviel Gas diese Galaxien zu welcher Zeit aufnehmen. Das ist eine Schlüsselinformation für unser Verständnis der Galaxienentstehung.«

Avishai Dekel von der Hebräischen Universität Jerusalem, einer der Väter des Modells solcher kalten Gaszuflüsse auf Galaxien, kommentiert: »Dies ist ein sehr interessantes Resultat. Es passt zu der theoretischen Vorhersage – die sowohl auf physikalischen Überlegungen als auch auf kosmologischen Simulationen beruht – wie Galaxien bei hoher Rotverschiebung durch kalte Gasflüsse entlang des kosmischen Materienetzes gefüttert werden. [...] Die niedrige Metallizität macht dies zu einem deutlich überzeugenderen Fall als in früheren Nachweisen.« Dekel war nicht an dem hier beschriebenen Forschungsprojekt beteiligt.

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Hintergrundinformationen

Die hier beschriebenen Ergebnisse sind veröffentlicht als N. H. M. Crighton et al., "Metal-Poor, Cool Gas in the Circumgalactic Medium of a z = 2.4 Star-Forming Galaxy: Direct Evidence for Cold Accretion?" in Astrophysical Journal Letters.

Die Koautoren sind Neil H. M. Crighton (MPIA and Swinburne University of Technology), Joseph F. Hennawi (MPIA) und J. Xavier Prochaska (University of California at Santa Cruz).

ADS-Eintrag für den Artikel

Das vollständige Zitat von Avishai Dekel ist: "Dies ist ein sehr interessantes Resultat. Es passt zu der theoretischen Vorhersage – die sowohl auf physikalischen Überlegungen als auch auf kosmologischen Simulationen beruht – wie Galaxien bei hoher Rotverschiebung durch kalte Gasflüsse entlang des kosmischen Materienetzes gefüttert werden. Die nachgewiesenen Gaseigenschaften, etwa die Säulendichte, die Temperatur und die Dicke, stimmen in der Tat mit den Vorhersagen überein, und die Geschwindigkeit relativ zum Zentrum der Galaxie ist vereinbar mit dem Umstand, dass die Einströmgeschwindigkeit vergleichbar der Virialgeschwindigkeit ist. Die niedrige Metallizität macht dies zu einem deutlich überzeugenderen Fall als in früheren Nachweisen."

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Fragen und Antworten

Was ist in diesem Zusammenhang kaltes Gas?
Sterne entstehen im Inneren von Wolken (vorwiegend aus Wasserstoff), die unter ihrer eigenen Schwerkraft kollabieren und sich dabei dermaßen erhitzen, dass Temperaturen und Dichten groß genug für die Zündung der Kernfusion werden. Dieser Kollaps kann allerdings nur in sehr kalten Wolken geschehen, mit typischen Temperaturen von 10 bis 100 K (rund -260 bis -160 Grad Celsius). In wärmerem Gas verhindert der innere Druck einen Kollaps.

Deswegen sind Forscher, die sich für die Logistik der Sternentstehung interessieren, an kaltem Gas interessiert. Bei den hier beschriebenen kalten Materieflüssen ist das Gas freilich nach Alltagsbegriffen nicht sehr kalt – es kann einige Zehntausend Grad Celsius heiß sein, aber dies ist immer noch wesentlich kälter als das heiße Gas mit Temperaturen von einer Million Kelvin und mehr, das man typischerweise in der Umgebung von Protogalaxien erwartet. Dieser Unterschied ist wichtig: Um innerhalb realistischer Zeitskalen soweit abzukühlen, dass neue Sterne entstehen, darf das Gas nicht zu heiß sein. Nachschub aus dem vergleichsweise kalten Gas im intergalaktischen Raum spielt deswegen für die Sternentstehung in den letzten Milliarden von Jahren eine wichtige Rolle.


Was sind kalte Materieflüsse/kalte Akkretionsflüsse?
Wenn Gas aus dem intergalaktischen Medium auf eine Galaxie zuströmt, wird es sich im allgemeinen stark erhitzen. Als Analogie kann man sich einen öffentlichen Platz voller Menschen vorstellen, die alle auf einen bestimmten Ort auf dem Platz zustreben. Wenn die Menschenmenge auf diesen Ort konvergiert, rempeln sich die Menschen an und das Gedränge wird immer dichter. Auf ähnliche Weise wird einfallendes Gas im allgemeinen immer dichter werden, wenn es auf die Galaxie zu fällt; der Umstand, dass die Atome dabei immer wieder aneinander stoßen, entspricht einer Erhöhung der Gastemperatur ("shock heating"). Auf diese Weise heizt sich das Gas auf mehr als eine Million Kelvin auf – die lange Zeit, die es dann zum Abkühlen benötigt, sorgt dafür, dass es für die Sternentstehung praktisch keine Rolle spielt.

Es gibt allerdings noch eine andere Sorte von Materiefluss. Auf Längenskalen von rund 10 Millionen Lichtjahren und größer ist die Materie im Universum nicht gleichmäßig im Raum verteilt. Stattdessen bildet die vorherrschende Materieform, die dunkle Materie, ein komplexes Netzwerk aus langen, dünnen Filamenten, die in verdickten Knoten zusammenkommen – ein kosmisches Netz. Die Knoten in diesem Netz beherbergen die größten Galaxien und ihr Gefolge von kleineren Begleitern.

Gas, das entlang der Filamente fließt, kann das Gedränge vermeiden, das zur Aufheizung führt. In unserer Analogie entspräche das einer Kolonne von Menschen, die geordnet auf ein gemeinsames Ziel zu marschieren. Beim kosmischen Gas sind dies die "kalten Akkretionsströme" intergalaktischer Materie auf Galaxien – so erhalten die Galaxien vergleichsweise kaltes Gas, das nach nur ein wenig weiterer Abkühlung als Rohmaterial für die Sternentstehung dienen kann.


Welche Teleskope und Instrumente wurden benutzt?
Die systematische Durchmusterung von Absorptionssystemen nutzt Beobachtungen mit dem Large Binocular Telescope auf dem Mount Graham in Arizona und mit dem Instrument FORS2 am Very Large Telescope der ESO. Weiterhin nutzt es Archivdaten: Für viele der großen astronomischen Teleskope werden Beobachtungsdaten archiviert und stehen dann, nach einer bestimmten Wartezeit die den ursprünglichen Beobachtern eigene Auswertungen erlaubt, der Allgemeinheit zur Verfügung. Die Daten, deren Analyse hier beschrieben wird, sind Archivdaten des Hintergrundquasars J1444535+291905, die mit dem Echelle-Spektrografen HIRES am 10-Meter (segmentierter Spiegel) Keck I-Teleskop auf Hawaii aufgenommen wurden. Die Galaxie im Vordergrund wurde von Charles Steidel, Gwen Rudie (California Institute of Technology) und weiteren Astronomen mit dem LRIS-Spektrografen am gleichen Teleskop entdeckt.


Wie können die Astronomen darauf schließen, dass dies in der Tat urtümliches Gas aus der Zeit kurz nach dem Urknall ist?
Die Absorptionslinien des Gases lassen Rückschlüsse auf die chemische Zusammensetzung der Wolke zu. Insbesondere zeigen sie die Anwesenheit schwererer chemischer Elemente. Astronomen nennen diese Elemente – nämlich alles schwerer als Wasserstoff und Helium – kollektiv »Metalle«. Diese Metalle haben gemeinsam, dass sie bei Kernfusionsreaktionen im Inneren von Sternen oder bei Kernprozessen in Supernova-Explosionen erzeugt werden. Urtümliches Gas enthält keine schwereren Elemente; Gas, das bereits Teil von Sternen einer Galaxie war, enthält einen messbaren Anteil davon.

Das von Crighton und Kollegen untersuchte Gas hat unterschiedliche Komponenten, die sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf uns zu und von uns weg bewegen. Offenbar handelt es sich also um verschiedene Gaswolken, die von uns aus gesehen in derselben Richtung stehen. Eine dieser Wolken enthält äußerst wenige schwere Elemente – zwischen 0,7% und 1,5% der Menge, die unsere Sonne enthält. Außerdem enthält diese Wolke signifikante Mengen des Wasserstoffisotops Deuterium (Wasserstoff mit einem zusätzlichen Neutron im Kern). Deuterium wird im Inneren von Sternen rasch zerstört. Seine Anwesenheit bestätigt, dass es sich um eine Wolke urtümlichen Gases handelt.


Was ist an den hier beschriebenen Resultaten neu bzw. wichtig?
In den letzten Jahren hat es eine Reihe ähnlicher Beobachtungen gegeben. Im Jahre 2011 berichteten Fumagalli, O'Meara und Prochaska den Nachweis von urtümlichen Gaswolken (keine nachweisbaren Elemente außer Wasserstoff) durch Absorptionslinien in einer Quasar-Sichtlinie – freilich ohne, dass eine Galaxie in der Nähe gewesen wäre. Im Juli diesen Jahres veröffentlichten Nicolas Bouché und Kollegen eine Beobachtung eines Absorptionssystems aus einer Gaswolke, einer benachbarten Galaxie und einem Hintergrundquasar, der die Gaswolke von hinten anstrahlt – also ein ähnliches System wie von Crighton und Kollegen beschrieben.

Allerdings enthält das von Bouché et al. nachgewiesene Gas mehr als zehn Mal so viele schwerere Elemente (Metalle) als das System von Crighton et al. Ob es sich wirklich um einen kalten Materiefluss von urtümlichem Gas handelt ist daher zweifelhaft. Stattdessen könnte es sich um Gas handeln, das von einer nahegelegenen Galaxie abgezogen wurde, oder um Gas im Inneren einer kleineren Satellitengalaxie. Für das von Crighton et al. beschriebene System dagegen schließen der geringe Anteil an schwereren chemischen Elemente (geringe Metallizität) und die Anwesenheit von Deuterium diese Alternativerklärungen aus. Es handelt sich also um die erste Beobachtung von nachweislich urtümlichem Gas in direkter Nähe (und darum höchstwahrscheinlich ein Materiefluss in Richtung) einer benachbarten, Sterne bildenden Galaxie – also genau jenes Szenario, das von den Modellen des Galaxienwachstums und der Sternentstehung auf galaktischen Skalen mit kaltem Akkretionsfluss vorhergesagt wird.

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