Big Data schreibt (galaktische) Geschichte: Die erste globale Alterskarte unserer Milchstraße

8. Januar 2016

Dank neuer Verfahren, das Alter Roter Riesensterne zu bestimmen, haben Astronomen erstmals auf großen Skalen die Altersstruktur unserer Milchstraße kartiert. Dazu bestimmten sie das Alter von fast 100 000 Roten Riesen in Abständen von bis zu 50 000 Lichtjahren vom galaktischen Zentrum. So konnten die Astronomen unter der Leitung von Melissa Ness und Marie Martig vom Max-Planck-Institut für Astronomie außerdem wichtige Teile des heutigen Verständnisses unserer Heimatgalaxie testen. Insbesondere bestätigt die Karte, dass unsere Heimatgalaxie von innen nach außen gewachsen ist und sich daher heute die meisten alten Sterne in den inneren Regionen befinden.

Hintergrundinformationen Bilder und Downloadbereich Ausführliche Beschreibung

In den vergangenen Jahrzehnten haben umfangreiche Durchmusterungen den Astronomen Daten über Millionen astronomischer Objekte beschert, so dass groß angelegte Auswertungen nie vorher gekannten Ausmaßes möglich werden. Aber solche Auswertungen sind immer nur so gut wie die Werkzeuge, die dafür zur Verfügung stehen. Nun haben Melissa Ness und Marie Martig vom Max-Planck-Institut für Astronomie dem astronomischen Werkzeugkasten zwei wichtige Ergänzungen hinzugefügt: Mithilfe von Daten der APOGEE-Durchmusterung (Teil des Sloan Digital Sky Survey) und des NASA-Weltraumteleskops Kepler entwickelten Ness und Martig zwei voneinander unabhängige Methoden, das Alter von Roten Riesensternen direkt aus deren Spektren (also aus den Eigenschaften des Sternenlichts) zu bestimmen.

Damit konnten die Astronomen für fast 100 000 Rote Riesen, die mit der APOGEE-Durchmusterung beobachtet worden waren, das Alter bestimmen und so eine ganz neuartige Karte unserer Milchstraße erstellen: eine Altersverteilung die zeigt, wo in unserer Heimatgalaxie sich die alten, mittelalten oder jungen Sterne befinden (siehe Abbildung 1). Die Karte stellt dabei einen repräsentativen Querschnitt durch die wichtigsten galaktischen Regionen vom Zentrum bis zu den 65 000 Lichtjahre vom Zentrum entfernten Außenbezirken dar.

Mit einer Alterskarte dieser Art lassen sich Entwicklungsmodelle für unsere Heimatgalaxie testen. Solche Modelle sagen beispielsweise vorher, dass die Sternscheiben, die in Galaxien wie unserer Milchstraße den Großteil der Sterne beherbergen, sich von innen nach außen gebildet haben, sprich: von einer vergleichsweise kleinen Scheibe aus immer weiter nach außen gewachsen sind. Demnach würde man nahe dem galaktischen Zentrum ältere und nach außen hin immer jüngere Sterne erwarten. Die Karte bestätigt genau diese Verteilung.

Die Modelle sagen außerdem, dass bei festem Abstand vom galaktischen Zentrum in der Scheibenebene eher jüngere, entfernt davon eher ältere Sterne zu finden sein sollten. Auch das bestätigt die Karte von Ness und Kollegen.

Sobald die Ergebnisse derzeit laufender Durchmusterungen wie APOGEE-2 oder der Arbeit des ESA-Satelliten Gaia abgeschlossen ist, versprechen die von Ness und Martig entwickelten Methoden noch deutlich weiterreichende Ergebnisse. Dann dürften sich Astronomen daran machen, die Sternentstehungs-Geschichte unserer Milchstraße insgesamt zu rekonstruieren: wie viele Sterne in den verschiedenen Epochen unserer galaktischen Geschichte entstanden sind, in welchen Regionen dies stattfand, und wie die Sterne das Rohmaterial unserer Heimatgalaxie durch die in ihnen entstehenden schwereren chemischen Elemente verändert haben. Solche Veränderungen und das Vorhandensein schwererer Elemente sind Voraussetzung für die Entstehung von Planeten und letztlich auch von Lebewesen.

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Hintergrundinformationen

Die hier beschriebenen Ergebnisse sind veröffentlicht in Ness et al. The Cannon: A Data-driven Approach to Stellar Label Determination (veröffentlicht im Astrophysical Journal), Spectroscopic determination of masses (and implied ages) for red giants (Vorabdruck, beim Astrophysical Journal eingereicht) und Martig et al. Red giant masses and ages derived from carbon and nitrogen abundances (zur Veröffentlichung akzeptiert bei MNRAS).

Melissa Ness wird ihre Ergebnisse auf dieser Pressekonferenz bei der Jahrestagung der American Astronomical Society am Freitag, 8. Januar, nach 10:15 am Ortszeit (16:15 MEZ) vorstellen. Die Pressekonferenz wird hier als Webcast übertragen. Für Zugang zum Webcast .

Eine ausführliche Beschreibung der Ergebnisse und Hintergründe finden Sie hier.

Die entsprechende Pressemitteilung des SDSS finden Sie hier.

Von Seiten des Max-Planck-Instituts für Astronomie waren an der beschriebenen Forschung beteiligt

Melissa Ness, Marie Martig, Hans-Walter Rix, David Hogg (auch: New York University),  Morgan Fouesneau und Anna Y.Q. Ho  (auch: Caltech)

in Zusammenarbeit mit

Marc H. Pinsonneault (Ohio State University), Szabolcs Mészáros (ELTE Gothard Astrophysical Observatory, Hungary), D. A. García-Hernández and Olga Zamora (both Instituto de Astrofísica de Canarias und Departamento de Astrofísica, Universidad de La Laguna), Aldo Serenelli (Instituto de Ciencias del Espacio (ICE/CSIC-IEEC) Campus UAB) und Victor Silva Aguirre (Aarhus University)

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Hintergründe und ausführliche Informationen: Big Data schreibt (galaktische) Geschichte: Die erste globale Alterskarte unserer Milchstraße

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In den letzten fünfzehn Jahren spielt "Big Data" auch in der Astronomie eine immer größere Rolle. Große Durchmusterungen  erfassen und untersuchen mittlerweile Millionen astronomischer Objekte, seien es ferne Galaxien oder Sterne in unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße. Eine Pionierrolle spielte dabei der Sloan Digital Sky Survey (SDSS), der im Jahre 2000 systematische Beobachtungen mit einem eigenen 2,5-Meter-Teleskop am Apache Point Observatory im US-Bundesstaat New Mexico begann. Das Max-Planck-Institut für Astronomie (MPIA) war ein Partner in diesem ersten SDSS und ist auch an der derzeit laufenden vierten Ausgabe SDSS IV der Durchmusterung beteiligt. Darüber hinaus haben MPIA-Forscher - wie zahllose andere Astronomen weltweit - die Daten genutzt, die der SDSS online öffentlich zur Verfügung stellt.

Zwei der Beobachtungsprogramme des SDSS, sie heißen APOGEE und APOGEE-2, konzentrieren sich direkt auf Sterne innerhalb unserer Milchstraße. APOGEE steht dabei für das Apache Point Observatory Galactic Evolution Experiment, sinngemäß die "Messungen am Apache Point Observatory zur Entwicklung unserer Milchstraße". Ziel der beiden Programme ist es zu rekonstruieren, wie unsere Milchstraße entstanden ist und sich über die letzten Milliarden Jahre hinweg weiterentwickelt hat.

Durchmusterungsdaten und astronomische Regenbögen

Teleskopbeobachtungen liefern den Astronomen zunächst einmal reichhaltige Daten zum Licht, das die betreffenden Sterne oder anderen Himmelsobjekte aussenden. Besonders viele Informationen erhält man dabei durch spektroskopische Durchmusterungen (wie bei den verschiedenen SDSS-Durchmusterungen). Dabei wird für jedes der untersuchten Himmelsobjekte ein Spektrum aufgenommen, das genau zeigt, wie sich das Licht des Objekts auf die unterschiedlichen möglichen Wellenlängen verteilt - wieviel Licht also beispielsweise in einem engen Bereich der Farbe blau, in einem engen Bereich im Roten oder eben bei einer von tausenden verschiedener Teilfarben ausgesandt wird, die Astronomen bei solchen Messungen unterscheiden.

Das Ergebnis ist ein hochdifferenzierter Regenbogen von Farben, die sich zwischen den unsichtbaren Radiowellen und Infrarotfarben jenseits des roten Endes des Regenbogens bis hin zum lila-blau des kurzwelligen Endes erstrecken und jenseits davon nur noch mithilfe von Weltraumteleskopen zu beobachten sind, da unsere Atmosphäre die Strahlungssorten mit den höchsten Energien abschirmt.

In der Praxis kann jede Durchmusterung nur einen Teil des gesamten Spektrums erfassen. APOGEE beschränkt sich auf hochaufgelöste und hochempfindliche Beobachtungen im Nahinfrarotbereich. Bei solchen Wellenlängen werden die Staubwolken, die weite Teile der Milchstraße vor den Blicken optischer Teleskope verbergen, so gut wie durchsichtig. APOGEE hat damit klare Sicht auf die gesamte Milchstraße. Der Spektrograf von APOGEE nimmt Spektren im Wellenlängenbereich zwischen 1,52 und 1,69 μm auf (H-Band) und unterscheidet in diesem Bereich fast 2300 unterschiedliche "Teilfarben" (entsprechend einer spektralen Auflösung von R=22 500 bei typischem Signal-zu-Rauschen-Verhältnis S/N > 100).

APOGEE hat mehr als 100 000 Rote Riesensterne erfasst. Ein Stern wird zum Roten Riesen, nachdem er den Wasserstoff in seinem Kern zu Helium verschmolzen hat. Rote Riesen sind typischerweise sehr leuchtstark und damit auch auf große Distanzen nachweisbar. APOGEE kann einen typischen Roten Riesen noch in rund 80 000 Lichtjahren Entfernung nachweisen, und damit so gut wie überall in unserer Milchstraße. Außerdem ist die Leuchtkraft eines Roten Riesen weitgehend unabhängig vom Alter oder der chemischen Zusammensetzung des Sterns. Das macht es einfach, bei einer Durchmusterung eine repräsentative Auswahl solcher Sterne zu erfassen ohne befürchten zu müssen, dass Sterne mit bestimmten Eigenschaften systematisch über- oder unterrepräsentiert sind.

Big Data: Immer nur so gut wie die Analyse-Werkzeuge

Ohne gute Analysewerkzeuge nützt es herzlich wenig, umfangreiche Daten zur Verfügung zu haben. Wer die Entwicklungsgeschichte der Milchstraße verstehen möchte, muss aus den Daten insbesondere Informationen gewinnen, wie alt die vielen verschiedenen Sterne in unserer Milchstraße sind. Die Entwicklungsmodelle für unsere Milchstraße sagen eine ganz bestimmte Altersverteilung vorher: Die mächtige Scheibe, in der sich die meisten Sterne von Galaxien wie unserer Milchstraße befinden, sollten sich von innen nach außen gebildet haben. Heute würde man daher erwarten, die älteren Sterne vor allem in den inneren Regionen zu finden, weiter draußen dagegen zunehmend jüngere Sterne.

Außerdem ist die Scheibe den Entwicklungsmodellen zufolge mit der Zeit immer dicker geworden. In größerem Abstand von der Scheibenebene erwartet man daher in heutiger Zeit mehr und mehr jüngere Sterne, und zwar mit zunehmendem Maximalabstand von der Ebene, je weiter man vom galaktischen Zentrum nach außen geht.

Um diese Vorhersagen und damit unser heutiges Verständnis der Entwicklung unserer Heimatgalaxie testen zu können muss man daher das Alter einer Vielzahl von Sternen bestimmen und dabei Daten bei möglichst vielen Abständen vom galaktischen Zentrum und von der Scheibenebene gewinnen.  

Altersbestimmung von Sternhaufen

Allerdings sieht man Sternen ihr Alter nicht einfach so an. Altersbestimmungen ergeben sich immer aus einer Kombination von Beobachtungen mit Modellen der Sternentwicklung und nutzen Zusammenhänge zwischen dem Sternalter und anderen, direkter nachweisbaren Sterneigenschaften aus.

Bisher basierten Altersschätzungen für Rote Riesensterne jeweils auf einer von drei Bestimmungsmethoden - jede allerdings mit bestimmten Einschränkungen behaftet. Bei Sternen, die Teil ein und desselben (offenen) Sternhaufens sind, kann man davon ausgehen, dass sie zur gleichen Zeit entstanden und damit auch gleich alt sind. Außerdem haben sich solche Sterne aus ein und derselben Molekülwolke gebildet und weisen daher sehr ähnliche chemische Zusammensetzungen auf.

In einem Diagramm, das Sternhelligkeiten und -temperaturen gegeneinander aufträgt ([Effektiv-]Temperatur-Helligkeitsdiagramm) bilden die Sterne eines solchen Sternhaufens eine charakteristische Verteilung. Auf einer länglichen, linearen Struktur ("Hauptreihe") liegen all diejenigen Sterne, die im Sternenkern Wasserstoff zu Helium fusionieren ("Hauptreihensterne"), in einem anderen Bereich diejenigen Sterne, die bereits zu Roten Riesen geworden sind.

Die absolute Helligkeit eines Hauptreihensterns - also seine Strahlungsleistung - hängen direkt mit der Temperatur des Sterns zusammen. Aus solch einem Diagramm lässt sich daher auf Sternhelligkeiten und auf diesem Umweg auch auf die Abstände der betreffenden Sterne zurückschließen (Vergleich der Strahlungsleistung mit derjenigen Strahlung, die hier auf der Erde ankommt).

Aus demselben Diagramm lässt sich auch auf das Alter des Sternhaufens schließen: Sterne mit höherer Masse werden nach kürzerer Zeit zu Roten Riesen als solche mit niedrigerer Masse. Andererseits sind Sterne mit höherer Masse leuchtstärker. Kombiniert man diese beiden Eigenschaften, dann lässt sich das Alter des Sternhaufens daraus bestimmen, wo in dem Diagramm der "Abknickpunkt" liegt, der diejenigen leuchtkräftigeren (massereicheren) Sterne, die bereits zu Roten Riesen geworden sind, von jenen leuchtärmeren (masseärmeren) scheidet, die noch auf der Hauptreihe liegen.

Leider sind solche Sternhaufen vergleichsweise selten. Außerdem verlaufen sich die Sterne solcher Haufen typischerweise nach einigen Milliarden Jahren. Das Alter von sehr alten Roten Riesen lässt sich auf diese Weise daher nicht bestimmen.

Unterriesen und Chemie

Eine andere Methode erlaubt Altersschätzungen für sogenannte Unterriesen: Sterne, die gerade aufgehört haben, in ihren Kernregionen Wasserstoff zu verbrennen, also gerade dabei sind, die Hauptreihe zu verlassen und dabei sind, zu Roten Riesen zu werden. Für solche Sterne lässt sich aus der Kombination von Parameterwerten für die (effektive) Temperatur, die Gravitationsbeschleunigung an der Sternoberfläche und die chemische Zusammensetzung (insbesondere die Häufigkeit von Eisen, [Fe/H]) auf das Sternalter zurückschließen. Diese Parameter lassen sich aus dem Sternspektrum aber vergleichsweise direkt bestimmen.

Leider sind solche Unterriesen deutlich weniger leuchtstark als Rote Riesen und lassen sich daher nur bis zu deutlich geringeren Distanzen beobachten. Mit der heute für Durchmusterungen verfügbaren Teleskoptechnik wäre es nicht möglich, Unterriesen bis hinaus zu hinreichend großen Abständen nachzuweisen, um ein repräsentatives Bild des gesamten Milchstraßensystems zu rekonstruieren.

Die dritte Methode ist eher qualitativer Art. Mit der Zeit entstehen bei den Kernfusionsprozessen der Sterne immer schwerere Elemente. Massereiche Sterne produzieren die schwerstmöglichen Elemente, wenn sie als Supernova explodieren - und schleudern diese Elemente dann auch gleich ins All hinaus. Sterne, deren Atmosphären nur winzige Menge dieser schwersten Elemente enthalten, dürften daher frühzeitig entstanden sein, noch bevor unsere Heimatgalaxie durch Supernovae mit schwereren Elementen angereichert wurde. Sie sind daher sehr alt. Allerdings geben solche Schätzungen nur darüber Aufschluss, wieviele Sterngenerationen einem gegebenen Stern vorangegangen ist. Quantitativ lässt sich das Alter des Sterns daraus nicht ermitteln.

Spektroskopische Altersbestimmung

Keine dieser Methoden wird dem Datenreichtum spektroskopischer Durchmusterungen wie APOGEE gerecht - keine erlaubt es den Astronomen, das Alter Roter Riesen direkt aus ihren Spektren abzulesen!

Diese Lücke schließen die erwähnten neuen Werkzeuge: Zwei sich ergänzende Methoden, die es erlauben, das Alter einzelner Roter Riesensterne zu bestimmen, entwickelt von den beiden MPIA-Postdoktoranden Marie Martig und Melissa Ness.

Beide Methoden greifen auf eine ganz besondere Art von Daten zurück, die erst durch Messungen des europäischen (CNES/ESA) Satelliten CoRoT und des NASA-Satelliten Kepler zugänglich geworden sind. Beide Satelliten sind in der Öffentlichkeit eher durch die zahlreichen Planeten um andere Sterne bekannt, die sie nachweisen konnten. Aber dieselben Messungen, anhand derer sich die betreffenden Exoplaneten nachweisen lassen, nämlich die hochgenaue Vermessung winziger Helligkeitsvariationen von Sternen, hat den Forschern auch Daten über ein ganz anderes Phänomen geliefert, nämlich über Sternoszillationen.

Sterne sind keine statischen Gasbälle (genauer: Plasmabälle), sondern sie schwingen und verändern dabei fortwährend auf Zeitskalen von Stunden, Minuten oder Sekunden ihre Größe und damit auch ihre Helligkeit. Genau wie der Klang einer Glocke Rückschlüsse auf Größe, Form und Materialeigenschaften der Glocke erlaubt, lassen sich aus Sternoszillationen Rückschlüsse auf fundamentale Eigenschaften von Sternen ziehen - unter anderem auf ihre Masse.

Vor kurzem wurde ein Katalog namens APOKASC veröffentlicht. Er enthält die Daten von fast 2000 Roten Riesensternen, deren Masse über Sternoszillationen mithilfe des Kepler-Satelliten bestimmt und deren Spektren im Rahmen der APOGEE-Durchmusterung aufgenommen wurden. Hervorgegangen ist der Katalog aus einem gemeinsamen Projekt des APOGEE-Teams und des Kepler Asteroseismic Science Consortium (Asteroseismologie ist dasjenige Teilgebiet der Astronomie, das sich mit Sternschwingungen beschäftigt).

Das schaffte ideale Voraussetzungen für Forscher, die sich für Zusammenhänge zwischen den Massen und den Spektrumseigenschaften von Roten Riesen interessieren, denn für diese beträchtliche Stichprobe von Sternen lagen schließlich Informationen über das eine wie das andere vor.

Bei Roten Riesen besteht andererseits ein direkter Zusammenhang zwischen der Masse und dem Alter. Die Masse des Sterns bestimmt, wieviel Zeit ein Stern auf der Hauptreihe verbringt, sprich: wie lange er in seinen Kernregionen Wasserstoff zu Helium verbrennt. Direkt im Anschluss wird der Stern zum Roten Riesen - allerdings nur für vergleichsweise kurze Zeit, bevor der Stern dann in die nächste Phase seines Lebens eintritt. Die kurze Dauer der Rote-Riesen-Phase bedeutet: Wer aus der Masse eines Roten Riesen abschätzt, wieviel Zeit der Stern auf der Hauptreihe verbracht hat, besitzt damit bereits eine gute Abschätzung für das Gesamtalter des Roten Riesen.

Altersbestimmung dank Sternmischmaschine

Die spektrale Altersbestimmungs-Methode von Martig und ihren Kollegen basiert auf grundlegenden physikalischen Überlegungen wie folgt: Sterne mit mehr als 30% mehr Masse als die Sonne verschmelzen Wasserstoff im sogenannten CNO-Prozess über die Zwischenstufen Kohlenstoff (C), Stickstoff (N) und Sauerstoff (O) zu Helium. Ihre Kernregionen enthalten aufgrund der dabei ablaufenden Prozesse mehr Stickstoff-14 (14N) und weniger Kohlenstoff-12 (12C), als anderweitig zu erwarten. Je größer die Masse des Sterns, desto höher ist dabei die Temperatur in seinen innersten Regionen, und umso größer ist wiederum derjenige Bereich, in dem die Bedingungen für die CNO-Fusion gegeben sind. Daraus folgt: Je größer die Sternmasse, desto größer die Veränderungen der chemischen Zusammensetzung, und insbesondere der Zunahme des Stickstoff- und Abnahme des Kohlenstoff-Anteils.

Sterne mit Massen bis zur zehnfachen Sonnenmasse besitzen unter ihren äußersten Schichten sogenannte Konvektionszonen. Dort wird das Sternmaterial pausenlos umgewälzt: heißeres Material steigt nach oben, kühleres Material sinkt ab, analog zu den Vorgängen in einem Topf mit brodelnd kochendem Wasser. Wenn solche Sterne die Hauptreihe verlassen und zu Roten Riesen werden, dann verändert sich ihre Struktur. Insbesondere die Konvektionszonen reichen dann tiefer in den Stern hinein als sonst. Bei Sternen, in denen CNO-Fusion stattgefunden hat, wird dadurch auch Material aus denjenigen Regionen nach oben transportiert, dessen chemische Zusammensetzung sich durch die CNO-Prozesse in charakteristischer Weise verändert hat, mit entsprechend mehr Stickstoff und weniger Kohlenstoff-12 ("first dredge-up").

Damit gelangt das betreffende Material in die äußeren Sternregionen, deren chemische Zusammensetzung sich aus dem Sternspektrum ablesen lässt: Was dort an chemischen Elementen vorhanden ist, absorbiert und streut Licht bei ganz bestimmten, für das betreffende Element charakteristischen Frequenzen. So entsteht ein "chemischer Fingerabdruck" von dunklen Spektrallinien (Absorptionslinien) im Sternspektrum. Damit ist vorgezeichnet, wie sich das Alter eines Roten Riesen aus seinem Spektrum ableiten lassen könnte: Man lese aus dem Spektrum die Häufigkeit von Kohlenstoff-12 und Stickstoff-14 ab, insbesondere das Verhältnis von Stickstoff zu Kohlenstoff und schließe daraus auf die Masse des Sterns, und daraus wiederum auf das Sternalter.

Diese Möglichkeit wurde erstmals 2015 anhand der APOGEE-Daten von Thomas Masseron und Gerry Gilmore von der Universität Cambridge erkannt. Marie Martig unternahm dann den entscheidenden nächsten Schritt: mithilfe der Daten für 1475 Rote Riesen aus dem APOKASC-Katalog, für die es dank der Kepler-Messungen Massenwerte gab, leitete sie einen quantitativen Zusammenhang zwischen Stickstoff-/Kohlenstoffhäufigkeit und Sternalter ab.

In Abbildung 2 ist die entsprechende Korrelation gut zu sehen. Dort ist das Mengenverhältnis Kohlenstoff zu Stickstoff [C/N] gegen die Gesamthäufigkeit von Metallen in der Sternatmosphäre aufgetragen ([M/H], wobei im astronomischen Sprachgebrauch "Metalle" alle Elemente schwerer als Helium einschließt). Die Farben zeigen die betreffenden Sternalter an - von blau für mittlere Sternalter um die eine Milliarde Jahre bis zu dunkelrot für Sterne mit einem Alter von 12 Milliarden Jahren.

Die Daten (fast) für sich selbst sprechen lassen

Einen anderen Ansatz wählten Melissa Ness und Kollegen. Ihrer Herangehensweise haben sie den klangvollen Namen The Cannon gegeben, nach der US-Astronomin Annie Jump Cannon (1863-1941), mit ihrer bahnbrechenden Klassifikation von Sternspektren Vorreiterin für unser heutiges Verständnis von Sternstruktur und -entwicklung.

The Cannon kann auf jede stellare Durchmusterung angewandt werden können, deren Daten mit einem einzigen Instrument aufgenommen und in gleicherweise aufbereitet (reduziert) wurden. Das Verfahren besteht aus zwei Schritten: Im ersten wird ein Trainings-Datensatz einem genau definierten Rezept folgend ausgewertet. Dabei werden die Spektra und die Zielgrößen, die für die Untersuchung von Interesse sind, über ein allgemeines und flexibles statistisches Modell verknüpft. Bei den Zielgrößen kann es sich um Größen wie Temperatur, Gravitationsbeschleunigung an der Sternoberfläche handeln oder, zentral für das hier behandelte Thema, die Masse des Sterns. Das statistische Modell setzt nicht voraus, dass man die Physik der Sterne versteht - es stellt einfach anhand der Trainingsdaten einen Zusammenhang zwischen den Spektraldaten und den Sternparametern her (genauer: liefert eine Wahrscheinlichkeits-Dichtefunktion für diese Parameter).

Nachdem sie 1639 Rote Riesen aus dem APOKASC-Katalog als Trainings-Datenset verwendet hatten, erhielten Ness und ihre Kollegen ein statistisches Modell, das Sternmassen mit einer Genauigkeit von rund 20% aus den Spektraldaten erschließen konnte. In Abbildung 3 (auf der Hauptseite der Pressemitteilung) ist ein kleiner Teil von zwei Beispielspektren zu sehen, der zeigt, wie sich das Spektrum dem Modell zufolge in Abhängigkeit von der Sternmasse ändern sollte.

Die Astronomen überprüften ihren Ansatz, indem sie ihrer Rechnungen mehrmals wiederholten und dabei nur einen Großteil des Trainings-Datensets nutzten, um das Modell abzuleiten. Die restlichen Sterne des Datentests nutzten sie anschließend, um das Modell zu testen.

Die Altersstruktur der Milchstraße

Mithilfe eines Zusammenhangs zwischen Spektraldaten und Sternmasse bzw. -alter lässt sich aus den APOGEE-Daten, die knapp 100 000 Rote Riesen erfassen, eine repräsentative Karte erstellen, welche die Altersstruktur der Milchstraße sichtbar macht. Da die Sternparameter (insbesondere Temperatur und Masse) es erlauben, die absolute Helligkeit des betreffenden Sterns abzuschätzen, lassen sich für alle diese Sterne auch die Abstände zur Erde bestimmen . Das Resultat ist eine dreidimensionale Alterskarte.

Solche Karten erstellen sowohl Martig et al. als auch Ness et al. mit ihren jeweiligen Verfahren zur spektralen Altersbestimmung. Die Karte von Ness und Kollegen, in Abbildung 4 zu sehen, deckt einen großen Bereich der Milchstraße ab und enthält insbesondere einen Querschnitt, der sowohl das galaktische Zentrum als auch die Randgebiete unserer Milchstraße rund 65 000 Lichtjahre vom Zentrum entfernt umfasst. In Abbildung 4 ist zu sehen, wie sich diese dreidimensionale Karte in eine Simulation einbetten lässt, die unsere Heimatgalaxie als Ganzes zeigt.

Zum Vergleich: Die bislang beste Durchmusterung für Sterne, deren Alter bekannt waren, die Genf-Kopenhagen-Durchmusterung (Geneva-Copenhagen Survey), erfasst gerade einmal die kosmische Nachbarschaft unseres Sonnensystems bis hin zu Abständen von rund 330 Lichtjahren um uns herum. Damit waren die Möglichkeiten, die Entwicklung unserer Heimatgalaxie zu testen, ziemlich eingeschränkt.

Die neue, weit umfassendere Karte von Ness und Kollegen erlaubt es, unser Verständnis der Entwicklung unserer Milchstraße weit aussagekräftiger auf die Probe zu stellen. Wie den Modellen nach zu erwarten zeigt die Karte insbesondere, dass sich in der Scheibenebene in zunehmender Entfernung vom galaktischen Zentrum in der Tat zunehmend jüngere Sterne finden. Dies bestätigt das Bild vom allmählichen Wachstum der Milchstraße, die mit einer vergleichsweise kleinen Scheibe beginnt und sich weiter und weiter nach außen hin vergrößert, während sich mehr und mehr Sterne bilden.

Die Karte zeigt auch, dass bei gegebenen Abstand vom galaktischen Zentrum in der Scheibenebene jüngere Sterne anzutreffen sind als weiter von der Ebene entfernt. Es ist unklar, ob die älteren Sterne die größeren Geschwindigkeiten, dank derer sie sich von der Scheibenebene entfernen konnten, bereits bei der Geburt oder durch spätere Wechselwirkungen ("kinematisches Aufheizen") bekommen haben.

Werden wir einmal die komplette Geschichte der Milchstraße schreiben können?

Die Ergebnisse von Martig et al. und von Ness et al. sind wichtige Schritte im Rahmen einer allgemeineren Entwicklung. Über die nächsten Jahre hinweg werden Durchmusterungen wie APOGEE-2 und die hochgenaue Karte von Sternpositionen und -bewegungen des Gaia-Satelliten der ESA Daten über die Sterne unserer Milchstraße liefern, die in Qualität und Quantität weit über alles bisher verfügbare hinausgehen.

Analysemethoden wie die hier beschriebenen und ihre Gegenstücke etwa zum Nachweis der Häufigkeiten bestimmter chemischer Elemente in den Sternatmosphären, mit denen sich aus diesen Daten physikalische Sterneigenschaften ("Label") bestimmen lassen, werden aus diesem Datenpool eine gigantische galaktische Volkszählung machen, die Alter, Massen und Zusammensetzung einer großen Zahl von Sternen erfasst.

In Kombination mit Simulationen zur Galaxien- und Sternenstehung hoffen Astronomen, aus solch einer Datensammlung die Sternentstehungs-Geschichte unserer Milchstraße insgesamt rekonstruieren zu können: wie viele Sterne in den verschiedenen Epochen unserer galaktischen Geschichte entstanden sind, in welchen Regionen dies stattfand, und wie die Sterne das Rohmaterial unserer Heimatgalaxie durch die in ihnen entstehenden schwereren chemischen Elemente verändert haben. Solche Veränderungen und das Vorhandensein schwererer Elemente sind Voraussetzung für die Entstehung von Planeten und letztlich auch von Lebewesen.

Das ist für sich genommen bereits ein interessantes Thema. Solche Ergebnisse würden aber noch viel weitere Kreise ziehen. Die meisten Sterne im Universum entstehen in Galaxien mit ähnlichen Massen wie die Milchstraße. Die Geschichte unserer Heimatgalaxie ist damit ein guter Ausgangspunkt für ein tieferes Verständnis der Sternentstehung, Galaxienentwicklung und chemischen Evolution im Rest des Universums.

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