Gigantische X-förmige Struktur gibt Hinweise auf galaktische Geschichte

Forschungsbericht (importiert) 2016 - Max-Planck-Institut für Astronomie

Autoren
Ness, Melissa; Lang, Dustin
Abteilungen
„Galaxien und Kosmologie“
DOI
Zusammenfassung
Zwei Astronomen haben die erste direkte Abbildung einer gigantischen X-förmigen Struktur rund um das Zentrum der Milchstraße erstellt. Das Projekt begann, als Dustin Lang (Universität Toronto) einen Tweet mit einem selbst angefertigten Milchstraßenbild verschickte; Melissa Ness (MPIA) erkannte das wissenschaftliche Potenzial der dort gezeigten Daten für die Geschichte unserer Galaxis. Die X-förmige Struktur zeigt an, dass die zentrale Verdickung unserer Milchstraße durch dynamische Wechselwirkungen der Sterne entstanden sein dürfte, nicht durch den Zusammenstoß mit kleineren Galaxien.

Manchmal reicht ein einziger Tweet, um ein Forschungsprojekt in Gang zu setzen. Als Dustin Lang vom Dunlap Institute for Astronomy & Astrophysics der Universität Toronto im Mai 2015 ein Bild der Milchstraße tweetete, das er aus Daten des NASA-Satelliten WISE erstellt hatte, war er zunächst einmal froh, ein komplexes Projekt zu einem guten Abschluss gebracht zu haben. (Sein Kommentar zum Bild lautet „Ich will gar nicht zugeben, wie lang es gedauert hat, 150 Gigapixel zu diesem WISE[-Bild] aufzusummieren.“) Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, sein Tweet war bereits der Auftakt zu einem ganz anderen Forschungsprojekt.

Als Melissa Ness vom Max-Planck-Institut für Astronomie (MPIA) den Tweet sah, fiel ihr auf, dass darauf eine Struktur zu sehen war, nach der Astronomen lange gesucht hatten, die sie aber noch nie hatten abbilden können: eine X-förmige Anordnung von Sternen in der zentralen Verdickung, dem sogenannten „Bulge“ unserer Milchstraße (Abb. 1).

Einige Wochen später trafen sich Ness und Lang auf einer Konferenz und machten sich gemeinsam daran, Lang’s Bilder so aufzubereiten, dass das gigantische X im Herzen unserer Galaxis deutlich sichtbar wurde (Abb. 2). Die Ergebnisse wurden jüngst in der Fachzeitschrift Astronomical Journal veröffentlicht.

Für Astronomen wie Ness, die sich für die Entwicklungsgeschichte unserer Heimatgalaxie interessieren, ist der Bulge ein wichtiges Element bei der Entstehung unserer Galaxie. Ness sagt: „Wenn wir den Bulge verstehen, dann verstehen wir die Schlüsselprozesse, die das Entstehen und die Form unserer Galaxie bestimmt haben.“ Speziell die Anwesenheit der X-Struktur zeigt, dass sich die zentrale Verdickung unserer Milchstraße durch die dynamische Wechselwirkung der Sterne unserer Galaxis entwickelt hat und nicht, so die Alternativerklärung, durch die Verschmelzung kleinerer Galaxien mit unserer eigenen.

Für Lang ist der wichtigste Aspekt der Arbeit die Rolle, die der offene Umgang mit wissenschaftlichen Ergebnissen gespielt hat. Er sagt: „Für mich ist diese Studie ein Beispiel dafür, was an unerwarteter interessanter Wissenschaft möglich wird, wenn große Datensets öffentlich gemacht werden. Ich freue mich sehr, dass meine WISE-Himmelskarten jetzt benutzt wurden um Fragen zu beantworten, die ich vorher noch nicht einmal kannte.“

Im Folgenden soll nun eine umfassendere Erklärung der hier vorgestellten Forschungsergebnisse und ihrer Hintergründe gegeben werden.

Gigantische X-förmige Struktur gibt Hinweise auf galaktische Geschichte im Kontext

In einer verbesserten Himmelskarte, erstellt aus Archivdaten des NASA-Infrarotsatelliten WISE, haben die Astronomen Melissa Ness und Dustin Lang eine X-förmige Struktur ausgemacht, die eine wichtige Rolle für die Entwicklung unserer Heimatgalaxie gespielt haben dürfte. Konkret gibt diese Struktur Hinweise auf die Entstehung des sogenannten Bulge unserer Galaxie, der zentralen Verdickung der galaktischen Scheibe: einer Gruppe von zumeist älteren Sternen, die in der Mitte der Scheibe in einer dreidimensionalen Form ähnlich einer gigantischen Erdnuss angeordnet sind.

Galaxien wie unsere Milchstraße sind gigantische Scheiben aus Sternen. Aber im wirklichen Leben kommen nun einmal keine perfekten geometrischen Formen vor. Sterne, die in einer leicht irregulären Scheibe umlaufen, bilden mit der Zeit komplexere Strukturen. Das augenfälligste Merkmal von Spiralgalaxien, die prominenten Spiralarme, haben sich entweder durch solche Irregularitäten gebildet oder wenn die Anwesenheit nahegelegener Zwerggalaxien die Sternbewegung stört. Der Balken, eine längliche Struktur aus Sternen in der Zentralregion unserer Galaxie, ist ein gutes Beispiel für die zusätzlichen Strukturen, die aus kleinen Unregelmäßigkeiten der Sternbewegung hervorgehen können.

Wie sich die Scheibe unserer Heimatgalaxie ausbeulte

Scheibe, Spiralarme und Balken sind drei der vier charakteristischen großräumigen Strukturen unserer Milchstraße. Die vierte Struktur ist der Bulge und für dessen Entstehung gibt es zwei konkurrierende Modelle. Im ersten Modell ist die Entstehung des Bulge direkt mit dem Wachstum unserer Galaxie als Ganzes verknüpft und der Bulge bildet sich, wenn unsere Galaxie mit anderen, kleineren Galaxien verschmilzt und dabei neue Sterne und Materie hinzugewinnt. Das Alternativmodell sieht den Bulge als dynamische Struktur, die aus der Evolution der bereits vorhandenen Sterne unserer Galaxis hervorgegangen ist, genauer: aus dem Balken, der in der inneren Scheibenregion im Laufe der Entwicklung immer weiter aus der Scheibe herausragt.

Das dynamische Modell eines Bulge, der sich aus dem Balken entwickelt, trifft konkrete Vorhersagen für die Verteilung der Sterne in der Mitte unserer Galaxis, für deren Bewegung rund um das galaktische Zentrum, ihre Bewegung senkrecht zur galaktischen Ebene und ihre Radialbewegung (Bewegung auf das Zentrum hin und vom Zentrum weg). Die Umlaufbahnen bilden dabei insgesamt „brezelartige“ Verschlingungen rund um den Balken (die dreidimensionalen Analoga sogenannter Lissajous-Figuren). Insgesamt verteilen sich die Sterne daher gerade so, dass der Bulge von der Seite aus gesehen nicht rund, sondern etwas eckig erscheint, wie ein Quader mit abgerundeten Ecken, oder aber eckig mit einer zentralen Einschnürung, die ihm das Aussehen einer Erdnuss gibt. Je nachdem, welche der Kopplungen zwischen den verschiedenen Umlaufbahnen (Resonanzen) besonders ausgeprägt ist, kann sich auch ein gigantisches X aus Sternen ergeben, dessen Kreuzungspunkt im Zentrum unserer Galaxie liegt.

Eine Reihe früherer Studien hatten Hinweise auf eben solch ein X oder zumindest eine quaderartige Struktur des Bulge unserer Milchstraße ergeben. Einige der Studien zählen in unterschiedlichen Blickrichtungen auf und um das Zentrum Sterne. Bilder des NASA-Satelliten Cosmic Background Explorer (COBE) zeigen zumindest eine kastenartige Struktur, wenn auch kein X. Eine 2013 veröffentlichte Studie von Forschern des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik, basierend auf Daten des ESO-Teleskops VISTA, enthält eine dreidimensionale Rekonstruktion des Bulges unserer Milchstraße, die auch eine X-förmige Struktur liefert – allerdings kein direktes Bild davon.

Ein Problem aller Beobachtungen Richtung Zentrum ist, dass aus Sicht eines Beobachters auf der Erde Großteile der Bulge-Strukturen hinter zahlreichen Staubschichten verborgen sind. Ihre Untersuchung erfordert daher Beobachtungen im richtigen Teilbereich der Infrarot-Strahlung. Beobachtungen, wie sie das NASA-Infrarot-Weltraumteleskop WISE in den Jahren 2010-2011 durchgeführt hat.

Wenn Twitter Forscher zusammenbringt

Allerdings findet man auch in den vom WISE-Team erstellten Himmelskarten kein direkt sichtbares X. Allerdings waren diese Karten nicht die einzigen, die aus den WISE-Daten hervorgingen. 2014–2015 machte sich Dustin Lang (ein Astronom am Dunlap Institute for Astronomy & Astrophysics an der Universität Toronto) daran, die WISE-Infrarot-Daten neu zu kombinieren. Sein Ziel war einfach: Die bis dahin verfügbaren Karten waren optimiert worden für die Entdeckung neuer punktartiger Objekte. Lang dagegen wollte die WISE-Daten mit anderen astronomischen Beobachtungen kombinieren. Dazu wählte er eine alternative Methode, die WISE-Daten zu Himmelskarten zusammenzustellen. Mit jener Methode ergaben sich für die in den Bildern sichtbaren Strukturen schärfere Bilder als zuvor.

Als Lang seine Karten im Mai 2015 fertiggestellt hatte, stellte er ein Überblicksbild der neuen Karten auf Twitter und kommentierte „Ich möchte gar nicht zugeben, wie lange es gedauert hat, die 150 Gigapixel dieses WISE-Bildes zusammenzufassen“. Melissa Ness, Postdoktorandin am MPIA sah den Tweet und das Bild und bemerkte insbesondere, dass auf dem Bild eine deutliche Kastenstruktur für den Bulge der Milchstraße sichtbar war. Offenbar hatten Langs neue Karten das Zeug dazu, einen Beitrag zur Erforschung der Geschichte unserer Galaxie zu leisten.

Persönlich trafen sich Ness und Lang erstmals auf einer Konferenz in Michigan ein paar Wochen später – und verabredeten, wie sie gemeinsam weiter vorgehen wollten, um Langs neue Karten auf die Untersuchung des Bulge anzuwenden. Sie zogen von den Bilddaten eine weichgezeichnete Version eines Modells der großräumigen Sterne ab und konnten das gigantische X im Herzen unserer Galaxie auf diese Weise erstmals direkt in einer astronomischen Aufnahme sichtbar machen. Die Ergebnisse sind jüngst in der Fachzeitschrift Astronomical Journal erschienen.

Mit diesen Bildern kann an der Existenz der X-Struktur kein Zweifel mehr bestehen. Ness sagt: „Wir sehen die kastenartige Struktur und das darin enthaltene X in den WISE-Bildern ganz deutlich. Das zeigt, dass der Bulge in der Tat durch Entwicklungsprozesse der Sternverteilung unserer Galaxie entstanden ist.“ Zukünftige Beobachtungen werden die Dynamik und die Eigenschaften der Sterne im Bulge noch genauer untersuchen, um daraus Rückschlüsse auf die Einzelheiten der Entstehungsgeschichte ziehen können. Die Stelle, an der sich die Antworten finden, ist jetzt jedenfalls deutlich mit einem X markiert.

Literaturhinweise

1.
Ness, M.; Lang, D.
The X-Shaped Bulge of the Milky Way Revealed by Wise
The Astronomical Journal 152, 14 (2016)
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