Extrem kalte Scheibe rund um jungen Stern bietet staubige Überraschung

3. Februar 2016

Dass die protoplanetare Scheibe mit dem Spitznamen „Fliegende Untertasse“ Rätsel aufgibt, hat nichts mit Außerirdischen zu tun, sondern mit winzigen Partikeln kosmischen Staubs. Eine neue Messung der Staubtemperatur in dieser Scheibe mit dem Teleskopverbund ALMA ergab überraschend niedrige Werte von nur 7 Grad über absolut Null (7 K). Die beteiligten Astronomen, darunter Dmitry Semenov vom Max-Planck-Institut für Astronomie, fanden, dass sich diese Temperatur nur durch ungewöhnliche Eigenschaften der Staubkörner in der Scheibe erklären lässt. Damit könnten solche Staubscheiben allgemein massereicher sein als bislang angenommen – mit Konsequenzen für die Planeten, die darin entstehen.

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Astronomen weisen Strahlung nach, die sie aus unterschiedlichen Richtungen erreicht. Mit dieser grundlegenden Feststellung sollte eigentlich klar sein, dass derartige Messungen immer Messwerte größer oder gleich Null ergeben werden: Entweder erreicht uns aus einem bestimmten Himmelsgebiet Strahlung oder eben nicht.

Ein negativer Messwert und seine Erklärung

Deswegen erscheint es auf den ersten Blick absurd, dass Messwerte für die Strahlung, die man von einem bestimmten Himmelsobjekt empfängt, negativ sein könnten. Genau das war allerdings bei Beobachtungen der Fall, die ein Team von Astronomen unter der Leitung von Stephane Guilloteau (Laboratoire d'Astrophysique de Bordeaux) vornahm, zu dem auch Dmitry Semenov, Thomas Henning und Til Birnstiel vom Max-Planck-Institut für Astronomie gehören.

Die Astronomen nutzten den Teleskopverbund ALMA in Chile, um eine protoplanetare Scheibe mit dem Spitznamen „Fliegende Untertasse“ zu untersuchen. Die Scheibe umkreist den jungen Stern 2MASS J16281370-2431391 in der Rho-Ophiuchi-Sternentstehungsregion im Sternbild Schlangenträger (Ophiuchus), rund 400 Lichtjahre von der Erde entfernt. Protoplanetare Scheiben sind die Geburtsstätten von Planeten: Scheiben aus Gas und Staub, die junge Sterne umgeben; innerhalb dieser Scheiben verklumpen kleiner Partikel zu größeren, bis auf Zeitskalen von einigen Millionen von Jahren größere Objekte und schließlich Planeten entstehen.

Was hat es mit den negativen Werten auf sich? Ein Teil der Lösung betrifft die Technik von ALMA. Bei diesem Verbundteleskop auf der Chajnantor-Hochebene in den chilenischen Anden, fast 5000 Meter über dem Meeresspiegel, werden 66 einzelne Radioantennen für Millimeter- und Submillimeterstrahlung zusammengeschaltet. Auf diese Weise erreicht ALMA eine Detailschärfe – die Astronomen reden vom Auflösungsvermögen – wie sie sonst nur mit einem ungleich größeren Teleskop möglich wäre. Üblicherweise ergeben sich die kleinsten Details, die ein Teleskop unterscheiden kann, aus dem Durchmesser des Teleskops. Bei der Interferometrie ist stattdessen der größte Abstand zwischen den beteiligten Einzelteleskopen die relevante Längenskala. In seiner ausgedehntesten Konfiguration erreicht ALMA damit dasselbe Auflösungsvermögen wie eine Radioantenne mit 16 Kilometern Durchmesser!

Was bei solchen Beschreibungen oft unerwähnt bleibt, in diesem Falle aber entscheidend ist, ist dass diese Fähigkeit, mit vergleichbar geringem Aufwand kleinste Details sichtbar zu machen, Einschränkungen besitzt. Je nach Positionierung der beteiligten Antennen kann es sein, dass ALMA zwar winzigste Details nachweisen, deutlich ausgedehntere Strukturen aber nicht abbilden und kann. Im Falle der Beobachtungen der Fliegenden Untertasse konnte ALMA zwar die Details der protoplanetaren Scheibe zeigen, war aber weitgehend blind für den Umstand, dass der Bildhintergrund durch eine der Molekülwolken im Rho Ophiuchi-Komplex mit weitgehend konstanter Helligkeit erleuchtet wurde.

Eine ungewöhnlich kalte Scheibe

Die negativen Messwerte sind daher die Konsequenz des Umstandes, dass die Scheibe (die ALMA sehen kann) weniger Strahlung abgibt als der Bildhintergrund (den ALMA nicht nachweisen kann). Das löst das drängendste Problem, nämlich das der negativen Werte; die extrem niedrigere Temperatur der Scheibe ist aber auch für sich genommen überraschend. Bereits Molekülwolken sind sehr kalt, mit typischen Temperaturen im Bereich von 10 bis 15 Kelvin (bzw. -258 bis 263 Grad Celsius, oder 10 bis 15 Grad Celsius über dem absoluten Nullpunkt).

Die negativen Messwerte zeigen an, dass die Fliegende Untertassen-Scheibe noch kälter sein muss als das, mit Temperaturen zwischen 5 und 8 Kelvin. Im Vergleich mit den meisten Modellen für solche Scheiben ist das unerwartet wenig. Schließlich befindet sich im Scheibenzentrum ein Stern, der die Scheibe vom Zentrum aus anstrahlt. Dadurch muss sich die Scheibe zwangsläufig erwärmen – wobei das Ausmaß der Erwärmung allerdings von den Scheibeneigenschaften abhängt. Dieser Umstand ist der Alltagssituation vergleichbar, bei der sich unterschiedliche Gegenstände, die man in die Sonne legt, je nach Material unterschiedlich erwärmen.

Astronomen berechnen die Erwärmung der Scheibe mithilfe von Strahlungstransport-Modellen: Simulationen, die nachvollziehen, welche Auswirkungen das Sternenlicht auf die unterschiedlichen Scheibenregionen hat, wie Licht in den unterschiedlichen Regionen gestreut und absorbiert wird, wie sich die unterschiedlichen Regionen erwärmen und wie ihre Wärmestrahlung dann wiederum andere Teile der Scheibe beeinflusst.

Im Vergleich mit den Ergebnissen solcher Modellrechnungen sind die Staubtemperaturen in der Fliegende Untertassen-Scheibe in der Tat sehr niedrig. In den einfachsten Modellen, die von kugelförmigen, kompakten Staubkörnern ausgehen, ist es schlichtweg unmöglich, dass Staubkörner diese Temperaturen erreichen.

Eine komplexere Sorte Staub

An dieser Stelle wandten sich die Astronomen an Dmitry Semenov, seines Zeichens Astrochemiker und Astrophysiker am Max-Planck-Institut für Astronomie. Semenov erforscht die chemische Prozesse, die in protoplanetaren Scheiben stattfinden und bei denen die Staubkörner und ihre Oberflächeneigenschaften eine zentrale Rolle spielen.

Semenov wusste, dass derart geringe Temperaturen in den betreffenden physikalischen Modellen nur dann zu erreichen waren, wenn die Staubkörner langwellige elektromagnetische Strahlung deutlich effizienter abstrahlen konnten als normal. Eine Möglichkeit dazu findet sich in einer Arbeit, die Semenov bereits im Jahre 2000 veröffentlichte, als er noch Physikstudent an der Universität Petersburg war und sich mit der Wechselwirkung von Strahlung mit den Staubkörnern in Kometenschweifen beschäftigte.

In den allermeisten Modellen wird angenommen, die Staubkörner seien kugelförmig und kompakt. In seiner Arbeit zu Kometenstaub hatte Semenov allerdings auch kompliziertere Sorten von Staub untersucht. Seine Ergebnisse zeigen eine Möglichkeit für die Hintergründe der niedrigen Staubtemperaturen der Fliegenden Untertasse auf: Staubkörner aus elektrisch leitfähigem Material (etwa bestimmten organischen Verbindungen oder eisenhaltigen Verbindungen), die eine längliche Form haben oder aber (Schema Schweizer Käse) porös und löchrig sind könnten in der Tat bei langen Wellenlängen deutlich stärker strahlen und den Staub auf diese Weise abkühlen. So ließen sich selbst in der Scheibenebene, wo die Staubkörner häufig von Molekülen des umgebenden Gases angestoßen werden, extrem kalte Staukörner erzielen (die sogar kühler sind als das sie umgebende Gas!).

Semenovs Lösung ist nicht die einzige Möglichkeit für die extrem kalte Fliegende Untertasse. Alternativ könnte es einen Temperaturunterschied zwischen den größeren Staubkörnern einerseits und den kleineren andererseits geben. Stöße der Staubkörner mit dem umgebenden Gas würden nicht ausreichen, um die beiden Komponenten auf den verfügbaren Zeitskalen ins thermische Gleichgewicht zu bringen.

Anhand der bislang verfügbaren Daten lässt sich nicht zwischen diesen möglichen Erklärungen entscheiden. Weitere Beobachtungen, die hier Klarheit schaffen könnten, sind bereits in Vorbereitung.

Staub mit Folgen

Eine Temperatur mit geringerem Wert als erwartet klingt zunächst einmal nicht besonders spektakulär – könnte aber Konsequenzen haben, die bis zu unserem Verständnis der Planetenentstehung reichen.

Ein Grund dafür ist der Umstand, dass Astronomen die Menge an Gas in protoplanetaren Scheiben wie der Fliegenden Untertasse nicht direkt messen können. Ein häufiges Verfahren, die Gasmasse abzuschätzen, orientiert sich an der Masse des in der Scheibe enthaltenen Staubes. Mithilfe eines durch Beispielmessungen bestimmten Umrechnungsfaktors wird dann aus der Staubmasse die Gasmasse abgeschätzt. Für Staub mit unterschiedlichen Eigenschaften könnte dieser Umrechnungsfaktor allerdings einen deutlich anderen Wert haben. Das hätte Auswirkungen auf die Massenschätzungen für protoplanetare Scheiben und damit auch auf die Vorhersage, welche Planeten (massereich oder massearm? Näher am Stern oder ferner?) sich in der betreffenden Scheibe bilden könnten.

Darüber hinaus sind Staubkorneigenschaften für die früheste Phase der Planetenentstehung wichtig. Ganz am Anfang stehen Staubkörner, die miteinander Verklumpen und etwas größere Konglomerate bilden. Das Verklumpungsverhalten hängt dabei von Form und Oberflächeneigenschaften ab, inklusive des Vorhandenseins von Wassereis, das in bestimmten Phasen des Verklumpungsprozesses als eine Art Kitt wirkt.

Auch Überlegung zur Chemie der protoplanetaren Scheiben hängen von den Staubeigenschaften ab. Staubkörner mit ihren vergleichsweise großen Oberflächen sind die Mini-Laboratorien, in denen chemische Reaktionen in der Scheibe bis hin zur Entstehung komplexer organischer Moleküle ablaufen. Es ist sogar möglich, dass die Staubchemie dafür verantwortlich ist, einige der chemischen Verbindungen zu schaffen, die später für die Entstehung von Leben auf einem aus der Scheibe gebildeten Planeten wichtig werden.

Veränderte Staubkorneigenschaften ändern auch die Verhältnisse in den Laboratorien, in denen die betreffenden Verbindungen entstehen. Auf kälteren Staubkörnern etwa dürften Oberflächenreaktionen langsamer ablaufen als auf warmen. Einige organische Reaktionen könnten dabei so langsam werden, dass sie auf den relevanten Zeitskalen keine Rolle mehr spielen. In diesem Falle müssten die Astronomen sich anderen Reaktionen zuwenden, um die organischen Moleküle zu erklären, die sich in Kometen und kohlenstoffhaltigen Meteoriten (kohligen Chondriten) finden. Alternativen böten etwa das Innere kohlenstoffhaltiger Asteroiden, wo bei Vorliegen von flüssigem Wasser ähnliche Reaktionen ablaufen könnten. Aber von den Details einmal abgesehen: Klar dürfte sein, dass jeder, der die Chemie in solchen protoplanetaren Scheiben verstehen möchte, tunlichst die Formen, Oberflächeneigenschaften und Temperaturen der beteiligten Staubkörner kennen sollte!

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