Sternbewegungen liefern Bibliothek von Galaxien-Geschichtsbüchern

3. Januar 2018
Sternbewegungen in einer Galaxie sind wie ein Geschichtsbuch, das dokumentiert, wie sich die Galaxie im Laufe der Zeit entwickelt hat. Jetzt hat eine Gruppe von Astronomen die erste repräsentative Bibliothek solcher Galaxien-Geschichtsbücher zusammengestellt. Die dafür ausgewerteten Daten zeigen die Vielfalt der Entwicklungsgeschichten der untersuchten 300 Galaxien. Damit können Astronomen, die Simulationen der kosmische Geschichte durchführen, ihre Simulationen nun mit einer großen Anzahl systematischer Beobachtungen vergleichen. Die Ergebnisse wurden am 1. Januar 2018 in der Zeitschrift Nature Astronomy veröffentlicht.

Für Sterne in Galaxien gibt es zwei grundsätzlich unterschiedliche Arten von Bewegungen. Einige der Sterne umkreisen das Zentrum der Galaxie in geordneter Weise – genau wie unsere Sonne und Milliarden anderer Sterne, die das Zentrum unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße, innerhalb einer flachen Scheibe umkreisen. Andere Sterne in anderen Galaxien haben dagegen zufällig orientierte, langgestreckte Bahnen. Eine Gruppe von Forschern unter der Leitung von Ling Zhu (Max-Planck-Institut für Astronomie [MPIA]) konnte jetzt anhand von Daten aus einer groß angelegten Durchmusterung die typischen Umlaufbahnen von Sternen in hunderten von Galaxien bestimmen. Die Eigenschaften dieser Bahnen dokumentieren, wie die betreffende Galaxie entstanden ist, und sie erlaubne es, Modelle der Galaxienbildung auf die Probe zu stellen.

Die Daten sind Teil der CALIFA-Durchmusterung, einer systematischen spektroskopischen Untersuchung von über 600 Galaxien, die mit dem PMAS-Spektrographen am 3,5-Meter-Teleskop des Calar Alto Observatory in Spanien durchgeführt wurde. Als Teil der Untersuchung erstellten die Astronomen Geschwindigkeitskarten von 300 Galaxien, die zeigen, wie sich Sterne in verschiedenen Regionen der Galaxie auf uns zu oder von uns weg bewegen.

Die Forscherinnen und Forscher unterschieden dabei zwischen nahezu kreisrunden Stern-Umlaufbahnen, die sie als "kalte Bahnen" bezeichnen, und stark verlängerten "heißen Bahnen", die für die zufällige, ungeordnete Bewegung von Sternen typisch sind. Durch den Vergleich ihrer Daten mit geeigneten Modellen konnten die Forscher zeigen, dass in weniger massereichen Galaxien, mit einer Gesamtmasse von bis zu 10 Milliarden Sonnenmassen, überwiegend kalte Bahnen zu finden sind. In den größten Galaxien, mit über 100 Milliarden Sonnenmassen, herrschen dagegen heiße Bahnen vor. Insgesamt befinden sich die Sterne der meisten Galaxien auf "warmen" Bahnen zwischen den beiden Extremen.

Diese Bewegungsmuster enthalten Informationen über die Entstehungsgeschichte einer Galaxie. Galaxien wachsen über Milliarden von Jahren, indem sie mit anderen Galaxien verschmelzen. Hat eine Galaxie zwar wiederholt kleinere Galaxien "verschluckt", ist aber nie mit einer anderen Galaxie von ähnlicher Größe wie sie selbst verschmolzen, dann weist sie typischerweise eine flache, rotierende Scheibe von Sternen auf. Unsere eigene Heimatgalaxie, die Milchstraße, ist eine solche Scheibengalaxie.  Verschmelzen dagegen zwei Galaxien mit etwa gleicher Masse, dann entsteht eine sogenannte elliptische Galaxie, mit einem Wirrwarr von Sternbahnen, die in viele unterschiedliche Richtungen ausgerichtet sind.

Aufgrund der gemeinsamen Rotation ihrer Scheibensterne haben Scheibengalaxien einen höheren Anteil an kälteren Sternumlaufbahnen. Die Astronomen stellten außerdem fest, dass es sich bei den durcheinander gewürfelten Bahnen innerhalb elliptischer Galaxien nicht um kreisförmige Bahnen in verschiedenen Ausrichtungen handelt, sondern ganz überwiegend um langgestreckte, heiße Bahnen. Anhand der Sternbahnen lässt sich daher zwischen Scheibengalaxien und elliptischen Galaxien unterscheiden – auch in Fällen, in denen bloße Bilder der Galaxien keine eindeutige Beurteilung zulassen.

Anders ausgedrückt: Durch die Messung von Sternumlaufbahnen können die Forscher erkennen, ob die Vergangenheit einer Galaxie eine ruhige Abfolge kleinerer Verschmelzungen war oder ob sie von einer gewaltigen großen Galaxienverschmelzung geprägt wurde. Die Forscher hatten damit eine neuartige und genaue Methode gefunden, um die Geschichte einer Galaxie abzulesen – ihre Durchmusterung mit Datensätzen für 300 Galaxien entpuppte sich als die größte existierende Bibliothek von Galaxien-Geschichtsbüchern!

Für Forscher, die die Entstehung und Entwicklung von Galaxien simulieren, sind die neuen Ergebnisse eine Fundgrube neuer Beobachtungsdaten, mit denen ihre Simulationen vereinbar sein müssen. Die CALIFA-Durchmusterung war von Anfang an so geplant worden, dass sie eine repräsentative Stichprobe von Galaxien liefert. Mit Hilfe der neuen Daten können Astronomen, die die kosmische Geschichte simulieren, jetzt direkt nachprüfen, ob ihre Simulationen die richtigen Vorhersagen für die Häufigkeit von heißen, kalten und warmen Bahnen bei Galaxien unterschiedlicher Massen liefern oder nicht.

Hintergrundinformationen

Die hier beschriebene Arbeit ist als Zhu et al.,"The stellar orbit distribution in present galaxies in the present galaxies in the CALIFA survey", in Nature Astronomy veröffentlicht.

Link zum Fachartikel

Die beteiligten MPIA-Forscher sind Ling Zhu, Glenn van de Ven (außerdem: ESO), Remco van den Bosch, Hans-Walter Rix, Marie Martig (außerdem: Liverpool John Moores University).

in Zusammenarbeit mit

Mariya Lyubenova (Kapteyn-Astronomieinstitut, Groningen, und ESO), Jesús Falcón-Barroso (Instituto de Astrofísica de Canarias und Universidad de La Laguna), Shude Mao (Tsinghua Universität, Chinesische Akademie der Wissenschaften und Universität Manchester) und DanDan Xu (Heidelberger Institut für Theoretische Studien).

Das Calar Alto-Observatorium wurde 1979 gegründet und befindet sich in Andalusien in Spanien. Es wird gemeinsam vom Max-Planck-Institut für Astronomie (MPIA) und dem Astrophysikalischen Institut Andalusien (IAA-CSIC, Granada, Spanien) betrieben. Das Observatorium hat der CALIFA-Durchmusterung über drei Jahre hinweg 250 Beobachtungsnächte mit dem 3,5-Meter-Teleskop zugewiesen. CALIFA ist ein Gemeinschaftsprojekt von mehr als 80 Wissenschaftlern aus 25 verschiedenen Forschungsinstituten in 13 verschiedenen Ländern.

Der Integral-Field-Spektrograf PMAS, der für die CALIFA-Durchmusterung verwendet wurde (Konfiguration PPAK) verwendet mehr als 350 Glasfasern, um ein Blickfeld von einer Quadratbogenminute (entsprechend der scheinbaren Größe einer Ein-Euro-Münze aus 80 Metern Entfernung betrachtet) zu untersuchen. So lässt sich ein ausgedehntes Objekt wie eine Galaxie in nur einer Belichtung vollständig kartieren.

Die Zielobjekte der CALIFA-Durchmusterung wurden zufällig aus der Galaxienpopulation ausgewählt. Damit sollten die untersuchten Galaxien repräsentativ für die Gesamtheit sein: Statistische Aussagen aus der Analyse ihrer Daten sollten Rückschlüsse auf allgemeine Eigenschaften aller Galaxien aus unserer kosmischen Nachbarschaft zulassen.

Die an CALIFA beteiligten Institutionen sind: Astrophysikalisches Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Prag; Australian Astronomical Observatory, Australia; Centro Astronómico Hispano Alemán, Spanien; Centro de Astrofísica da Universidade do Porto, Portugal; Institut d'Astrophysique de Paris, Frankreich; Instituto de Astrofisica de Andalucia, Spanien; Instituto de Astrofisica de Canarias, Spanien; Instituto de Física de Cantabria, Spanien; Laboratoire d'Astrophysique de Marseille, Frankreich; Leibniz-Institut für Astrophysik, Potsdam; Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg; Observatoire de Paris, Frankreich; Peking University – Kavli Institute for Astronomy and Astrophysics, China; Royal Military College of Canada, Kanada; Tianjin Normal University, China; Universidad Autónoma de Madrid, Spanien; Universidad de Complutense de Madrid, Spanien; Universidad de Granada, Spanien; Universidad de Zaragoza, Spanien; Ruhr-Universität Bochum; University of Cambridge, Großbritannien; Universität Kopenhagen – Dark Cosmology Centre, Dänemark; University of Edingurgh, Großbritannien; Universität Groningen – Kapteyn-Institut, Niederlande; Universität Heidelberg – Landessternwarte Königstuhl; Universität Lissabon, Portugal; University of Missouri-Kansas City, USA; Universität Porto, Portugal; University of Sidney, Australien; Universität Wien.

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