Neue Methode findet das der Erde nächste schwarze Loch

Entdeckungen von weiteren schwarzen Löchern sind zu erwarten

4. November 2022

Mit Daten des ESA-Astrometriesatelliten Gaia haben Astronomen das erdnächste bekannte schwarze Loch gefunden – weniger als 1600 Lichtjahre von uns entfernt. Es wird von einem Stern umkreist, der unserer Sonne ähnelt. Winzige Positionsverschiebungen jenes Sterns verrieten die Anwesenheit des Begleitobjekts. Mit derselben Methode sollten sich noch zahlreiche weitere schwarze Löcher entdecken lassen. Die Eigenschaften des Doppelsternsystems sind freilich unerwartet und weisen auf eine Lücke im Verständnis der Astronomen hin, wie solche Systeme überhaupt entstehen. Der Artikel ist zur Veröffentlichung in den Monthly Notices of the Royal Astronomical Society angenommen.

Schwarze Löcher sind per Definition schwer zu beobachten: Ihre Masse ist in einer Region mit extrem kleinem Durchmesser konzentriert, aus welcher die resultierende extrem starke Schwerkraft nichts entweichen lässt, nicht einmal Licht. Dennoch sind diese ungewöhnlichen Objekte seit Jahrzehnten ein wichtiger Teil unseres Bildes vom Universum. Das gilt insbesondere für so genannte stellare schwarze Löcher mit einigen Sonnenmassen, die als Endzustand von sehr massereichen Sternen auftreten.

Nun hat eine Gruppe von Astronomen und Astronominnen unter der Leitung von Kareem El-Badry (Max-Planck-Institut für Astronomie [MPIA] und Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics) mit einer neuartigen Methode ein schwarzes Loch entdeckt, das der Erde so nahe ist wie kein anderes bislang bekanntes schwarzes Loch. Die Entdeckung zeigt allerdings auch Lücken im derzeitigen astronomischen Wissen auf, nämlich dort, wo es um die Entstehung von Doppelsternsystemen geht.

Schwarze Löcher nachweisen

In unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße, gibt es schätzungsweise hundert Millionen stellare schwarze Löcher. Aufgrund der grundlegenden Schwierigkeiten bei der Beobachtung dunkler Objekte konnte allerdings nur ein geringer Teil davon bislang nachgewiesen werden. Einige wurden von Gravitationswellendetektoren aufgespürt, die fast hundert Verschmelzungen stellarer schwarzer Löcher gemessen haben, Angaben über die Massen jener Objekte inklusive.

Hinzu kommen einige Dutzend durch Teleskopbeobachtungen nachgewiesene stellare schwarze Löcher. Die meisten davon umkreisen einen Begleitstern, der nahe genug ist, dass die Schwerkraft des schwarzen Lochs Wasserstoffgas aus dem Begleitstern in eine sogenannte Akkretionsscheibe ziehen kann, die das schwarze Loch umgibt. Das Gas wird dabei heiß genug, um beträchtliche Mengen an Röntgenstrahlung zu emittieren. Es gibt 20 bekannte „Röntgendoppelsterne“ dieser Art und weitere 50 Kandidaten.

Schwierigkeiten beim Nachweis „stiller“ stellarer schwarzer Löcher

Es gab mehrere Versuche, zusätzlich auch „stille“ schwarze Löcher in Doppelsternsystemen zu finden („quiescent black holes“), also schwarze Löcher ohne solche hellen Akkretionsscheiben. Das Mittel der Wahl waren dabei Sternspektren, also die regenbogenartige Zerlegung des Sternenlichts. Solche Spektren enthalten nämlich Informationen über die Bewegung eines Sterns relativ zu uns. Wir kennen das aus dem Alltag vom „Doppler-Effekt“ für Schall: Das Martinshorn eines Rettungsfahrzeugs klingt für uns höher, wenn das Fahrzeug auf uns zukommt, und tiefer, nachdem es an uns vorbeigefahren ist. Analog gibt uns das Licht in Form von Sternenspektren Auskunft darüber, ob (und wie schnell) sich ein Stern direkt auf uns zu oder von uns wegbewegt.

In den letzten Jahren wurden mehrfach Fachartikel veröffentlicht, in denen die Entdeckung ruhender schwarzer Löcher vermeldet wurde. Das waren jeweils Versuche, die Umlaufbahn eines Doppelsterns und die Masse eines unsichtbaren Begleiters ausschließlich auf Basis der Sternspektren abzuleiten. Bis auf eine Ausnahme (die Entdeckung des Doppelsternsystems VFTS 243 im Juni 2022, an der El-Badry als Mitautor beteiligt war) wurden jedoch alle diese Behauptungen durch Folgestudien relativiert oder sogar widerlegt. Spektren liefern eben nur einen Teil der Informationen über die Sternbewegung und damit über die Umlaufbahn und die Masse des Begleiters. Die fehlende Information ist dabei eine entscheidende Unsicherheits-Quelle – und genau dort verspricht die Gaia-Mission der ESA Abhilfe.

Gaia stopft das Daten-Loch

Bereits seit einigen Jahren hegen Astronomen und Astronominnen die Hoffnung, dass die Astrometrie-Mission Gaia der ESA einen neuen Weg zur Entdeckung und Charakterisierung von schwarzen Löchern in Doppelsternsystemen eröffnen könnte: indem sie Informationen liefert, die die anhand der Spektren von Sternen gewonnenen Daten ergänzen. Gaia ist für hochpräzise Messungen von Sternpositionen ausgelegt. Dazu gehört auch die Fähigkeit, die Bewegung eines sichtbaren Sterns am Himmel zu dokumentieren, und daraus wiederum lässt sich auf die Anwesenheit eines unsichtbaren Begleiters schließen.

Binärsysteme bei denen einer der Partner ein schwarzes Loch ist, sind allerdings im Vergleich zur Gesamtanzahl von Doppel- oder Mehrfachsystemen sehr selten. Daher ist die Reichweite von Gaia für die Suche ebenso wichtig wie die Genauigkeit: Hochwertige Daten für mehr als hunderttausend Doppelsternsysteme bieten eine gute Chance, die Nadel im Heuhaufen zu finden, das schwarze Loch unter den vielen normalen Doppelsternsystemen.

Auf der Suche nach schwarzen Löchern in den Gaia-Daten

Als Mitte Juni 2022 der Gaia-Datensatz 3 (Gaia DR3) veröffentlicht wurde, der erstmals die Bahndaten der mit Gaia entdeckten Doppelsternsysteme enthält, machten sich Kareem El-Badry, MPIA-Direktor Hans-Walter Rix und seine Kollegen direkt daran, die Daten nach möglichen Kandidaten zu durchsuchen. Wo zwei Objekte einander als Doppelsternsystem umkreisen, beschreibt jedes davon in der Regel eine kleine Ellipse am Himmel. Gaia DR3 enthält Daten für 168.065 solcher winzigen Ellipsen oder Teile davon.

Anhand von Auswahlkriterien, die besonders geeignet waren, Systeme zu finden, in dem sich ein leuchtender Stern sowie ein massereicher unsichtbarer Begleiter umkreisen, konnten die Forscher sechs vielversprechende Kandidaten ausfindig machen. Alle sechs Kandidaten waren es wert, genauer betrachtet zu werden: mit Hilfe der Radialgeschwindigkeitsmessungen, die aus dem Spektrum des Sterns abgeleitet wurden und die Aufschluss geben über die Bewegung des Sterns direkt auf uns zu oder von uns weg – also genau jenen Teil, der zu einer Positionsverschiebung am Himmel noch dazukommt, will man die komplette, dreidimensionale Bewegung des Sterns dokumentieren.

Kandidaten werden aussortiert

Eine Reihe von Angaben zu Radialgeschwindigkeiten erhielten die Forschenden bereits in Form von in astronomischen Archiven vorhandenen Spektraldaten. Und weil Radialgeschwindigkeiten und Himmelspositions-Verschiebungen sozusagen zwei Seiten derselben Medaille sind, konnten sie die mit Hilfe von Gaia rekonstruierten Sternumlaufbahnen mit Hilfe der Radialgeschwindigkeits-Werte bereits auf die Probe stellen. Drei Kandidaten, bei denen die verfügbaren Radialgeschwindigkeitsdaten der Gaia-Rekonstruktion der Doppelsterne widersprachen, waren damit aus dem Rennen.

Ein weiterer Kandidat fiel heraus, weil die beste rekonstruierte Umlaufbahn nur sehr schlecht zu den Gaia-Daten passte – und einer Umlaufzeit entsprochen hätte, die so lang ist, dass Gaia sie gar nicht erst hätte messen können sollen. Ein fünfter Kandidat ist derzeit noch im Rennen, aber wartet auf ergänzende Spektralmessungen.

Gaia BH1: das nächstgelegene bekannte schwarze Loch

Bei dem verbleibenden Kandidatenobjekt, Gaia DR3 4373465352415301632, das die Forscher „Gaia BH1“ tauften, passte dagegen alles zusammen: Alle verfügbaren Daten waren wechselseitig stimmig. Um zusätzliche Gewissheit zu erlangen, führten die Astronomen weitere gezielte Beobachtungen von Gaia BH1 durch: mit dem 6,5-Meter-Magellan-Clay-Teleskop, dem 8,1-Meter-Gemini-Nord-Teleskop, dem 10-Meter-Keck-I-Teleskop und – für den Löwenanteil der neuen Datenpunkte – mit dem 2,2-Meter-ESO/MPG-Teleskop, welches das MPIA am La Silla-Observatorium der ESO betreibt.

Alles spricht dafür: Gaia BH1 ist ein System mit einem unsichtbaren Objekt mit einer Masse von rund 10 Sonnenmassen, welches zusammen mit einem sonnenähnlichen Stern ein Binärsystem mit einer Umlaufzeit von 185,6 Tagen bildet. Der Abstand zwischen Stern und Begleiter entspricht in etwa dem durchschnittlichen Abstand zwischen Erde und Sonne. Würde es sich bei dem 10-Sonnenmassen-Objekt um einen anderen Stern handeln, wäre dieser zwangsläufig viel heller als sein Begleiter. Stattdessen zeigen weder die Gaia-Daten noch Folgebeobachtungen Licht eines solchen zweiten Sterns.

Ein hervorragender Kandidat für ein schwarzes Loch

Damit ist Gaia BH1 ein hervorragender Kandidat für ein schwarzes Loch – und zwar mit einer Entfernung von rund 1560 Lichtjahren von der Erde für das bei weitem erdnächste schwarze Loch, das Astronomen und Astronominnen bisher gefunden haben, weniger als halb so weit entfernt wie der bisherige Rekordhalter!

Die Gaia-Daten waren entscheidend für die neue Entdeckung. El-Badry sagt: „Hunderte von Forschern haben an der Erstellung der Datenprodukte gearbeitet, mit deren Hilfe wir das schwarze Loch Gaia BH1 gefunden haben. Diese Entdeckung gehört nicht nur uns, sondern auch der gesamten Gaia-Kollaboration.

Statistisch gesehen ist der Umstand, dass dieses schwarze Loch uns so nahe ist, ein starkes Indiz dafür, dass es in der gesamten Galaxie zahlreiche ähnliche Systeme geben sollte. Was „zahlreich“ genau bedeutet, ist allerdings nicht so einfach zu sagen. Das Team um El-Badry schätzt jedoch, dass die nächste große Gaia-Datenveröffentlichung, DR4, die nicht vor Ende 2025 erwartet wird, die Entdeckung von Dutzenden ähnlicher Systeme ermöglichen sollte.

Das Ende einer langen Suche

Rückblickend kommentiert Kareem El-Badry die Entdeckung so: „Ich habe in den letzten vier Jahren nach einem System wie Gaia BH1 gesucht und dabei alle möglichen Methoden ausprobiert – aber keine davon hat funktioniert. Umso mehr freue ich mich, dass diese Suche jetzt endlich erfolgreich war.

El-Badry fügt hinzu: „Dieses Projekt ist auch deshalb so aufregend, weil unser Erfolgschancen zunächst völlig unklar waren. Die theoretischen Abschätzungen dafür, wie viele Objekte wir mit Gaia würden finden können, unterschieden sich um viele Größenordnungen. Ein einziges Objekt analysieren zu können ist schon einmal ein großer Fortschritt gegenüber der Situation, in der wir nicht einmal eines gefunden hatten. Jetzt müssen wir dieses Objekt so gut wie irgend möglich verstehen und uns gleichzeitig auf die deutlich größeren Stichproben in zukünftigen Gaia-Datenveröffentlichungen vorbereiten.

...aber wie ist es entstanden?

Gaia BH1 ist ein spektakulärer, aber gleichzeitig ein rätselhafter Fund. Es ist alles andere als einfach zu erklären, wie ein solches System überhaupt entstehen konnte. Der Vorgängerstern, der später zum schwarzen Loch wurde, müsste eine Masse von mindestens 20 Sonnenmassen gehabt haben. Daraus folgt zwingend, dass seine Lebensdauer sehr kurz gewesen sein muss, in der Größenordnung von wenigen Millionen Jahren. Wären beide Sterne gleichzeitig entstanden, hätte sich dieser massereiche Stern in einen Überriesen verwandelt, der sich aufbläht und sich bis weit über die gemeinsame Umlaufbahn der Sterne hinaus in den Weltraum erstreckt, bevor der andere Stern überhaupt die Zeit gehabt hätte, ein richtiger („Hauptreihen“-)Stern mit Wasserstoff-Kernfusion im Kern zu werden.

Es ist überhaupt nicht klar, wie der masseärmere Stern diese Episode in einer Weise überlebt haben könnte, dass er am Ende trotzdem noch so normal aussieht, wie es die Beobachtungen des Systems zeigen. Alle theoretischen Modelle, die ein Überleben zulassen, sagen voraus, dass der masseärmere Stern auf einer viel engeren Umlaufbahn hätte landen müssen, als dies tatsächlich beobachtet wird.

Sternhaufendynamik oder ein Dreifachsystem?

Damit bleiben noch eher ungewöhnliche Entstehungsszenarien übrig. Die beiden ursprünglichen Sterne könnten sich beispielsweise als Teil eines Sternhaufens gebildet haben. Zu Beginn wären sie in diesem Szenario wesentlich weiter voneinander entfernt gewesen, so dass die Überriesenphase des massereichen Sterns die Entwicklung des zweiten Sterns nicht gestört hätte. Enge Begegnungen des Systems mit weiteren Sternen des Haufens könnten die Umlaufbahn dann später auf ihre heutige, viel kleinere Größe verändert haben.

Alternativ ist möglich, dass das System gar nicht aus zwei, sondern aus drei Komponenten besteht: Zwei massereiche Sterne anstelle von einem, die eng umeinander umlaufen, und zusätzlich noch der Stern mit einer einzigen Sonnenmasse, der das massereiche Paar in einem größeren Abstand umkreist. Die beiden massereichen Sterne könnten sich in solch einer Situation gegenseitig daran hindern, zu Überriesen zu werden. Das 10-Sonnenmassen-Objekt wäre dann nicht ein einzelnes schwarzes Loch, sondern ein Paar sich eng umkreisender schwarzer Löcher. Da die Gravitation eines solchen doppelten schwarzen Lochs etwas anders auf den masseärmeren Stern wirken würde als bei einem einzelnen schwarzen Loch, könnten zukünftige genauere Beobachtungen diese Möglichkeit bestätigen oder ausschließen.

Alles in allem ist Gaia BH1 mindestens drei Dinge in einem: Es ist die Entdeckung des uns nächsten bekannten schwarzen Lochs. Es verspricht zahlreiche ähnliche Entdeckungen in den nächsten Jahren. Es zeigt uns aber auch die Grenzen des astronomischen Wissens über die Entstehung von Doppelsternsystemen bzw. von Mehrfachsternsystemen auf.

Hintergrundinformationen

Die hier beschriebene Forschungsarbeit wurde unter dem Titel „A Sun-like star orbiting a black hole“ („Ein sonnenähnlicher Stern, der ein schwarzes Loch umkreist“) von Kareem El-Badry et al. zur Veröffentlichung in den Monthly Notices of the Royal Astronomical Society angenommen.

Die beteiligten MPIA-Forscher sind Kareem El-Badry (weitere Affiliationen: Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics und Harvard Society of Fellows), Hans-Walter Rix, Rhys Seeburger, Silvia Almada Monter und Jennifer Wojno.

Nachtrag August 2023: Die ursprüngliche Version des Textes ließ das Schwarze Loch den Stern umkreisen. Da der astronomische Sprachgebrauch auch von sich gegenseitig umkreisenden Objekten redet, wenn jene Objekte ungleiche Masse haben, halten wir das nach wie vor nicht für falsch – merkten aber an wiederholten Zuschriften, dass es von vielen Leser*innen falsch verstanden wird, und haben den Text daher jetzt verändert.

MP/MN

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