Wie die Chemie unserer Heimatgalaxie für extragalaktische Astronom*innen aussieht

22. Juni 2023

Was würden extragalaktische Astronom*innen finden, wenn sie unsere Milchstraße aus großer Entfernung beobachten und versuchen würden, die chemische Zusammensetzung unserer Heimatgalaxie zu untersuchen? Das zeigt eine neue Studie, die von Forscher*innen des Max-Planck-Instituts für Astronomie geleitet wurde. Das Ergebnis ermöglicht zudem eine neue Art von Vergleich zwischen unserer Heimatgalaxie und den vielen fernen Galaxien, die wir von außen beobachten. Es liefert damit einen Teil der Antwort auf die alte Frage, ob unsere Heimatgalaxie etwas Besonderes ist: Zumindest was die chemische Zusammensetzung betrifft, ist unsere Milchstraße ungewöhnlich, aber nicht einzigartig.

Wir sehen ferne Galaxien von außen: Teleskopbeobachtungen zeigen uns die Form einer Galaxie und ihr Spektrum (die regenbogenartige Aufspaltung des Lichts eines Himmelsobjekts). Wie würde also unsere eigene Galaxie aus dieser Perspektive für "extragalaktische" Astronom*innen aussehen, die nicht von unserer eigenen, sondern von einer anderen Galaxie aus das Weltall erforschen? Das ist eine schwierigere Frage, als es zunächst scheinen mag. Schließlich haben die Astronom*innen hier auf der Erde recht raffinierte Methoden entwickelt, um aus ihren Beobachtungen die Eigenschaften einer Galaxie zu rekonstruieren, und extragalaktische Astronom*innen dürften ihnen darin nicht nachstehen.

Die Antwort auf die Frage nach den Erkenntnissen extragalaktischer Astronom*innen ist damit gar nicht so einfach zu beantworten. Aber die Antwort ist durchaus auch für unsere irdische Forschung interessant. Jianhui Lian (Max-Planck-Institut für Astronomie und Universität Yunnan), der Hauptautor der jetzt veröffentlichten Studie, sagt: "Seit Astronom*innen vor hundert Jahren erkannt haben, dass die Milchstraße nicht die einzige Galaxie im Universum ist, haben sie sich gefragt, ob unsere Milchstraße etwas Besonderes ist oder nicht. Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir Möglichkeiten finden, unsere Heimatgalaxie mit weit entfernten Galaxien zu vergleichen."

Fortschritte bei Daten und Simulationen

Die Frage mag alt sein; dass wir darauf für die Chemie unserer Heimatgalaxie eine Antwort finden können, ist dagegen durchaus neu. Zum einen hat es in den letzten zehn Jahren enorme Fortschritte bei der systematischen Erforschung unserer Heimatgalaxie gegeben. Durchmusterungen wie APOGEE haben mit Hilfe der Auswertung von Sternspektren Informationen über die chemische Zusammensetzung, die physikalischen Eigenschaften und die 3D-Bewegungen von Millionen einzelner Sterne in unserer Milchstraße geliefert. Auch für weit entfernte Galaxien gibt es viel mehr und viel bessere Daten als je zuvor. Bei der MaNGA-Durchmusterung beispielsweise wurden fast 10 000 Galaxien eingehend untersucht. Während frühere Durchmusterungen, die auf so viele Galaxien abzielten, nur ein Gesamtspektrum pro Galaxie lieferten, zeichnet MaNGA ein "spektrales Bild", das zeigt, wie z. B. die chemische Zusammensetzung jeder Galaxie vom Zentrum zu den äußeren Regionen hin variiert.

Nicht zuletzt zeichnen moderne Simulationen der Galaxienentstehung und -entwicklung, wie die TNG50-Simulation (https://www.tng-project.org), die Geschichte von Tausenden von Galaxien in einem Modelluniversum von der Zeit nach dem Urknall bis zur Gegenwart nach. All diese Fortschritte waren nötig damit wir eine Antwort auf die Frage finden können, was außergalaktische Astronom*innen herausfänden, wenn sie ihre Teleskope auf die Milchstraße richten und deren chemische Zusammensetzung studieren würden.

Extragalaktische Astronomie

Genau das hat eine neue Studie unter der Leitung von Lian und Maria Bergemann (Max-Planck-Institut für Astronomie) getan. Konkret untersuchten Lian, Bergemann und ihre Kollegen die chemische Zusammensetzung von Sternen. Die Sterne, die wir um uns herum sehen, bestehen größtenteils aus Wasserstoff und Helium. Sie enthalten aber auch ein paar Elemente, die schwerer sind als Helium – solche Elemente heißen in der Astronomie (aber nicht in der gewöhnlichen Chemie!) "Metalle".

Einige dieser Metalle entstehen im Inneren von Sternen und werden in den Weltraum geschleudert, wenn massereiche Sterne am Ende ihres Lebens explodieren. Andere entstehen in den äußeren Schichten aufgeblähter Riesensterne und werden von dort aus ins All geschleudert. Dabei gibt es einen allgemeinen Trend: Die Konzentration von Metallen im interstellaren Medium – in dem dünnen Gemisch aus Gas und Staub, das den Raum zwischen den Sternen ausfüllt – nimmt mit der Zeit zu. Sterne, die früher geboren wurden, enthalten weniger Metalle, später geborene Sterne enthalten mehr. Findet man heraus, in welchen Regionen einer Galaxie es Sterne mit weniger oder mehr Metallen gibt, dann kann man auf diese Weise rekonstruieren, in welcher Region die Sterne früher und in welcher Region sie später entstanden sind.

Von der lokalen Kosmologie zur Außenansicht

Unsere Heimatgalaxie, die Milchstraße, ist derzeit die einzige Spiralgalaxie, in der wir direkt eine groß angelegte Durchmusterung vieler einzelner Sterne durchführen können. Wir können die Positionen von Sternen innerhalb unserer Galaxie messen und über ihre Spektren ihren Metallgehalt, ihre Oberflächentemperatur und andere physikalische Eigenschaften feststellen. Lian, Bergemann und ihre Kollegen machten sich daran, zu rekonstruieren, was extragalaktische Astronom*innen sehen würden, wenn sie das Vorkommen von Metallen in der Milchstraße kartieren würden. Da unsere Heimatgalaxie eine Scheibengalaxie ist, lautet die Schlüsselfrage: Wie würde ein*e extragalaktische*r Astronom*in aus der Ferne die Häufigkeit von Metallen in Abhängigkeit von der Entfernung einer Region vom Zentrum unserer Galaxie rekonstruieren?

Das herauszufinden erfordert einiges an Arbeit. Die Daten aus der APOGEE-Durchmusterung waren nur der Ausgangspunkt. Als Nächstes mussten die Forscher*innen die Tatsache berücksichtigen, dass wir von der Erde aus keinen freien Blick auf die Milchstraße haben: In einigen Richtungen befindet sich mehr Staub zwischen uns und weiter entfernten Sternen, der das Licht der Sterne abschwächt und einige der schwächsten Sterne ganz verdeckt. In anderen Richtungen wird es weniger Staub geben. Die Forscher*innen mussten die Beobachtungsdaten sowie das, was wir über Staub und die Eigenschaften von Sternen wissen, kombinieren, um die tatsächliche Verteilung der Sterne in unserer Galaxie zu rekonstruieren.

Der hochmetallische "Gürtel" unserer Galaxis

Die Ergebnisse lieferten eine Überraschung. Verfolgt man den durchschnittlichen Metallgehalt der Sterne vom Zentrum der Galaxie aus nach außen, so steigt er an und erreicht in einer Entfernung von etwa 23 000 Lichtjahren vom Zentrum einen Metallgehalt, der dem unserer Sonne nahe kommt. (Zum Vergleich: Unsere Sonne ist rund 26 000 Lichtjahre vom galaktischen Zentrum entfernt.) In noch größerer Entfernung sinkt der durchschnittliche Metallgehalt dann allerdings wieder ab und beträgt in etwa 50 000 Lichtjahren Entfernung vom Zentrum nur noch ein Drittel des Sonnenwerts.

Um zu verstehen, was dort vor sich ging, untersuchten die Forscher Sterne verschiedener Altersgruppen – die APOGEE-Spektren ermöglichen immerhin eine grobe Schätzung des Sternalters. Bei der getrennten Betrachtung jüngerer und älterer Sterne stellten sie fest, dass jede Altersgruppe für sich einem ungebrochenen Trend folgt, mit einem höheren Metallgehalt näher am Zentrum und einem niedrigeren weiter außen. Der Anstieg und das Maximum der Gesamtverteilung waren ausschließlich darauf zurückzuführen, dass ältere Sterne (mit viel geringerem Metallgehalt) in der Nähe des galaktischen Zentrums häufiger vorkamen und somit den Gesamtdurchschnitt nach unten zogen, während jüngere Sterne weiter draußen häufiger wurden.

Unsere Milchstraße im intergalaktischen Vergleich

Lian, Bergemann und ihre Kollegen verglichen dieses interessante Ergebnis mit den Eigenschaften anderer Galaxien. Einerseits betrachteten sie dazu 321 Galaxien in der MaNGA-Durchmusterung, die alle eine ähnliche Masse wie die Milchstraße haben, ähnliche Mengen an Sternen produzieren und die wir alle einigermaßen in Draufsicht sehen, so dass die Änderung der durchschnittlichen Metallizität gemessen werden kann. Andererseits wandten die Forscher*innen die gleichen Kriterien an, um 134 milchstraßenähnliche Galaxien im Modelluniversum der TNG50-Simulation zu identifizieren.

Wie besonders ist also unsere Heimatgalaxie – oder eben nicht? Die Antwort in Bezug auf die chemische Zusammensetzung: Was die Verteilung der Metallhäufigkeiten angeht, ist unsere Milchstraße zwar ungewöhnlich, aber nicht einzigartig. Nur 11 % der Galaxien in der TNG50-Stichprobe und etwa 1 % der Galaxien in der MaNGA-Stichprobe zeigten ein ähnliches Auf und Ab der durchschnittlichen Metallizität. Die Diskrepanz zwischen 11 % und 1 % dürfte auf eine Kombination aus Unsicherheiten in den MaNGA-Daten und auf die Grenzen des Realismus des TNG50-Modelluniversums zurückzuführen zu sein.

Außerdem ist die Abnahme der durchschnittlichen Metallizität in den äußeren Regionen mit zunehmender Entfernung vom Zentrum bei der Milchstraße im Vergleich zu den MaNGA- und TNG50-Galaxien eher steil.

Die Frage nach dem Warum

Warum also hat die Milchstraße diese vergleichsweise ungewöhnlichen Eigenschaften, und was bedeuten diese Eigenschaften für die Entstehungsgeschichte unserer Heimatgalaxie? Es gibt mehrere Möglichkeiten, die vergleichsweise geringe Anzahl metallreicher Sterne in der Nähe des galaktischen Zentrums zu erklären. Sie könnte mit der Entstehung des so genannten Bulge zusammenhängen, einer näherungsweise kugelförmigen Region älterer Sterne, die das galaktische Zentrum in einer Entfernung von etwa 5000 Lichtjahren umgibt. Die Bildung des Bulges dürfte den größten Teil des verfügbaren Wasserstoffgases verbraucht haben, was die spätere Sternbildung in diesem Bereich erheblich erschwert hätte. Alternativ könnte die Knappheit mit einer aktiven Phase zusammenhängen, in der aus der unmittelbaren Nachbarschaft des zentralen supermassereichen Schwarzen Lochs im Zentrum unserer Galaxie Teilchen und Strahlung emittiert wurden, die die Sternentstehung hemmten.

Die Metallizität in den äußeren Regionen kann durch verschiedene Szenarien erklärt werden, welche die Entwicklung des Gases in unserer Heimatgalaxie mit der Geschichte der Sternentstehung in der galaktischen Scheibe kombinieren. Der steile Rückgang könnte ein Zeichen für eine ungewöhnliche Episode in der Geschichte unserer Galaxie sein – zum Beispiel könnte er darauf zurückgehen, dass unsere Heimatgalaxie eine kleinere Galaxie mit Gas "verschluckte", die nur sehr wenig an Metallen enthielt. Dieses Gas hätte dann später als Rohstoff für die Bildung von Sternen mit weniger Metallen in der Scheibe gedient. Außerdem ist möglich, dass unsere Schätzung für die Ausdehnung der stellaren Scheibe der Milchstraße falsch ist und dass dieser Fehler den Vergleich mit anderen Galaxien verzerrt, wenn es darum geht zu beurteilen, wie steil die Metallizität abnimmt.

Ausblick

Maria Bergemann sagt zu den neuen Ergebnissen: "Die Ergebnisse sind sehr spannend! Das hier ist das erste Mal, dass wir die chemische Zusammensetzung unserer Galaxis sinnvoll mit den Messungen an zahlreichen anderen Galaxien vergleichen können. Die Ergebnisse sind wichtig für die nächste Generation umfassender Studien zur Galaxienentstehung. Solche Studien werden Daten aus zukünftigen, groß angelegten Beobachtungsprogrammen nutzen, die auf die Milchstraße oder auf weit entfernte Galaxien abzielen. Unsere Forschung zeigt, wie man diese beiden Arten von Datensätzen sinnvoll kombinieren kann."

Alles in allem wirft die hier beschriebene Forschung eine Reihe von interessanten Fragen auf. Mit neuen Durchmusterungen und neuen Studien, die die Perspektive eines "extragalaktischen Astronom*innen" einnehmen, können wir hoffen, Antworten zu finden und dabei die Geschichte unserer Heimatgalaxie besser zu verstehen.

Hintergrundinformationen

Die hier beschriebenen Ergebnisse wurden als J. Lian et al. "The integrated metallicity profile of the Milky Way" in der Zeitschrift Nature Astronomy veröffentlicht.

Die beteiligten MPIA-Forscher sind Jianhui Lian (außerdem Universität Yunnan), Maria Bergemann und Annalisa Pillepich

in Zusammenarbeit mit

Gail Zasowski (University of Utah) und Richard R. Lane (Universidad Bernardo O'Higgins, Santiago, Chile).

Diese Forschung wurde im Rahmen des ERC-Projekts ELEMENTS durchgeführt.

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